17. August 2022
index Recruiting Report: Was läuft schief in den Unternehmen?
Lesezeit: 9 Min.
HRRecruitingSocial Media
Schaut man sich den gerade veröffentlichten index Recruiting Report 2022 an, so kann man sich schon (zum wiederholten) Male fragen, was da eigentlich schiefläuft im Recruiting. Budgets, die den Bruchteil dessen betragen, was nötig ist, ein Vergaloppieren in Richtung Social Media Recruiting, Setzen falscher Prioritäten und Linksliegenlassen wichtiger(er) Kanäle. Kein Wunder, dass es einen “Fachkräftemangel” in Deutschland gibt. Fragt sich nur, wo es den eigentlich gibt – draußen am Arbeitsmarkt oder drinnen in den Unternehmen? Aber lassen Sie uns gemeinsam einen Blick in den Report werfen.
30 Prozent der Unternehmen ohne Recruiting-Verantwortliche?
Eingeladen zur Befragung, die im Zeitraum Dezember 2021 bis Januar 2022 online durchgeführt wurde, waren Unternehmen, die in den vorangegangenen sechs Monaten mindestens fünf Stellenanzeigen veröffentlicht hatten, demzufolge also konkreten Personalbedarf zumindest in der Vergangenheit hatten. Teilgenommen haben letztlich 568 Personalverantwortliche aus Deutschland, wo von knapp 60 Prozent der Teilnehmer aus der Personalabteilung kamen und ca. ein Drittel aus der Geschäftsführung. Ein Viertel der teilnehmenden Unternehmen sind eher klein, mit bis zu 49 Mitarbeitern. Unternehmen mit bis zu 499 Mitarbeitern machen insgesamt einen Anteil von 60 Prozent aus. Der Anteil der Unternehmen mit über 500 Mitarbeitern beträgt ca. 16 Prozent (davon 9 Prozent mit mehr als 1.000 Mitarbeitern).

Bei mehr als der Hälfte der Unternehmen (59 Prozent) betreuen 2 bis 5 Mitarbeiter die Bereiche Personalmarketing und Recruiting. In gut 35 Prozent der Unternehmen ist es mal gerade eine Person, die sich um diesen strategisch überlebenswichtigen Bereich eines Unternehmens kümmert. Interessant finde ich hier, dass von den 568 Teilnehmern nur 396 geantwortet haben – heißt das im Umkehrschluss, dass es in 30 Prozent der befragten Unternehmen niemanden gibt, der explizit das Recruiting betreut, sondern das mal eben so nebenher macht? Warum sollte man diese Frage sonst nicht beantworten? Das stimmt, wie so viele andere der Ergebnisse, nachdenklich.
Personalverantwortliche beurteilen eigenes Recruiting als kritisch
Immerhin, das ist ein Lichtblick, beurteilen viele Personalverantwortliche das Recruiting im eigenen Unternehmen kritisch. Nur 53 Prozent stimmen der Aussage „Mein Unternehmen kann mit den heutigen Standards im Recruiting mithalten“ tendenziell oder uneingeschränkt zu. Schaut man sich die Zahlen etwas differenzierter an, so sind es sogar nur 8,1 Prozent der Befragten, die der Aussage voll und ganz zustimmen. 9,2 Prozent hingegen sind nicht davon überzeugt, dass das Unternehmen gut im Recruiting aufgestellt sind, 37,3 Prozent sind dort ebenfalls eher skeptisch.

Auch diese Daten stimmen vor dem Hintergrund des gern angestimmten Fachkräftemangel-Chors nachdenklich. Ich bekomme es auch im unmittelbaren Umfeld mit: Stellen im Recruiting, die bereits freigegeben waren, werden mir nichts, dir nichts gestrichen, schließlich müsse man ja sparen. Gleichzeitig werden unternehmensweit mehr Stellen ausgeschrieben, Marketing-Budgets werden hochgeschraubt, der Druck auf den Kessel steigt. In der Folge bleiben aufgrund unzureichender Recruiting-Ressourcen Stellen lange unbesetzt, Vakanzzeiten steigen weiter und dass Projekte in der Folge liegen bleiben oder nur noch halbherzig abgewickelt werden können, ist eine logische Folge der Misere, die nur allzu gern ignoriert und bei Budgetverhandlungen nicht berücksichtigt wird.
Im Schnitt nur 20.000 Euro Recruiting-Budget
Stellt sich die Frage, wie sich das möglicherweise in den Recruiting-Budgets widerspiegelt. Es stimmt mich sehr (sehr!) nachdenklich, wenn die Mehrzahl der befragten Unternehmen (56,3 Prozent) angibt, ein jährliches Recruiting-Budget von bis zu 20.000 Euro zur Verfügung zu haben. Lediglich 44 Prozent können mit einem höheren Budget arbeiten. Rechnen Sie selbst aus, was Sie mit 20.000 Euro – oder sogar weniger – anstellen können. Alleine Stellenanzeigen in den “angesagten” und reichweitenstarken Portalen fressen den Großteil der Budgets.

Durchschnittliche Besetzungskosten von 2.000 – 5.000 Euro?
Etwas blauäugig würde ich auch die Aussagen der Befragten bezüglich der durchschnittlichen Besetzungskosten pro Stelle einschätzen. Etwa ein Viertel der Unternehmen schätzt die Kosten für eine Stellenbesetzung auf 2.500 bis 5.000 Euro ein. Und ich gehe jede Wette mit Ihnen ein, dass da Opportunitätskosten keinerlei Berücksichtigung finden.
👉🏼 Für Sie noch mal zum Nachlesen: Alles zum Thema Cost of Vacancy, eine der wichtigsten Kennzahlen für Budgetverhandlungen.
Noch kruder wird es, wenn man liest, dass knapp 23 Prozent der Befragten glauben, die durchschnittlichen Besetzungskosten beliefen sich auf 1 bis 500 Euro. Und vier Prozent sind sogar der Meinung, Sie gäben im Durchschnitt gar kein Geld für die Stellenbesetzung aus.

Nee, is klar. Selbst bei Nutzung von kostenlosen Kanälen – etwa Google for Jobs, was nach wie vor von den wenigsten Unternehmen genutzt wird oder dem Arbeitsamt – trotzdem fallen Kosten an. Oder arbeiten Sie für Ihren Chef umsonst? Stecken Sie keinerlei Zeit in die Bemühungen, eine Stelle zu schalten, eine Auswahl zu treffen, Gespräche zu führen etc. pp.? Kann ja sein. Kann aber natürlich auch an einer unklaren Fragestellung liegen.
Zu wenig Ressourcen und Budget im Recruiting
Also halten wir fest: Es gibt zu wenig Ressourcen und zu wenig Budget im Recruiting. Das an sich ist keine neue Erkenntnis, gefühlt wussten wir das längst, aber es ist immer schön, das durch Zahlen bestätigt zu bekommen. Und was machen die Unternehmen mit den nicht vorhandenen Ressourcen und unzureichenden Budgets? Welche Maßnahmen werden durchgeführt, was ist geplant, wo liegt der Fokus? Auch hier hat der Index Recruiting Report Antworten. Anlass zur Beruhigung geben die allerdings auch nicht.
Großteil des Recruiting-Budgets entfällt auf Online-Stellenanzeigen, Headhunting an zweiter Stelle
Schaut man sich mal an, wie die Budgets aktuell verteilt werden, geht es weiter mit den Fragenzeichen. Zwar stehen Online-Stellenanzeigen an erster Stelle, was gut und richtig ist.

Schließlich sind Stellenanzeigen (und werden es auch noch lange bleiben) Recruiting-Instrument Nr. 1 und stellen in der Regel auch den ersten und damit wichtigsten Kontaktpunkt zwischen potenziellen Bewerbern und Arbeitgebern dar. Umso wichtiger ist der erste Eindruck, der wiederum, das zeigt nur allzu offensichtlich ein Blick in eine Jobbörse Ihrer Wahl, nicht unbedingt positiv ist. Dass an zweiter Stelle so viel Geld für Personalvermittlung und Headhunting verpulvert wird, stimmt schon wieder nachdenklich. Dieser Kostenblock wäre an anderer Stelle sinnvoller aufgehoben.
Wichtige und effizienteste Maßnahmen spielen kaum eine Rolle
Ebenso stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass 18,4 Prozent des Recruiting-Budgets in Print-Stellenanzeigen fließen. Auf der anderen Seite investieren Unternehmen nur 11,8 Prozent in den Dreh- und Angelpunkt der Recruiting-Maßnahmen, die eigene Karriereseite. Grob fahrlässig. Mitarbeiterempfehlungsprogramme machen nur 10,2 Prozent des Budgets aus. Auch hier: Wie kann das sein? Immerhin handelt es sich hier um den effizientesten Recruiting-Kanal überhaupt.
Social Media-Recruiting um jeden Preis
Gefragt wurde auch, welche Recruiting-Maßnahmen außerhalb der Schaltung von Stellenanzeigen derzeit umgesetzt werden. Hier dominiert Social Media-Recruiting via Facebook, Twitter, Instagram “oder ähnlichen Plattformen” noch vor Employer Branding. Auch das gibt mir zu denken. Wobei das ja auch wieder eine Frage der Fragestellung ist – wie wird Employer Branding definiert? Nicht zu vergessen, dass alles (wirklich alles: lieblos gestaltete Stellenanzeigen, schlecht auffindbare und/oder umgesetzte Karriereseiten, Zwangs-Logins, unzumutbare Bewerbungsformulare, lange Wartezeiten, Gendern..), was Sie als Arbeitgeber aussenden, auf Ihre Arbeitgebermarke aka Employer Brand einzahlt. Stichwort Signaltheorie. Kurz: Sie können nicht nicht Employer Branding betreiben, Sie können nicht nicht employerbranden. Hoffen wir also, dass Sie einen guten Job machen.
👉🏼 Lesen Sie hier, wie Sie mit bewusst und unbewusst ausgesandten Signalen Einfluss auf Ihre Arbeitgebermarke nehmen.

Wer nun glaubt, dass Arbeitgeber wenigstens zukünftig anders priorisieren, liegt komplett falsch. Demzufolge wollen Unternehmen nämlich weiterhin auf Social Media-Recruiting setzen bzw. die Maßnahmen ausbauen. Mit etwa 56 Prozent steigt Social Media-Recruiting nicht nur auf Platz eins der Trends des nächsten Jahres im Personalmarketing, Social Media-Recruiting wird auch als Recruiting-Projekt mit der höchsten Priorität eingestuft. Auch wenn es versöhnlich stimmt, dass Unternehmen sich Ihrer Candidate Journey annehmen wollen, Stichwort Candidate Centricity, so ist dieser fast schon obsessive Drang zu Social Media-Recruiting besorgniserregend.

Denn was Unternehmen bzw. Recruiting-Verantwortliche gern vergessen: Social Media bedeutet einen enormen Einsatz an Ressourcen, Ideen, Zeit und in der Folge Geld. Ressourcen und Budgets, die ja eigentlich gar nicht vorhanden sind und abgesehen davon, besser dafür genutzt würden, zielgruppen- und bedürfnisgerechte Stellenanzeigen und Karriereseiten sowie kandidatenzentrierte Bewerbungsprozesse zu gestalten.
Nur 5,1 Prozent der Befragten setzen auf SEO im Recruiting
Um Social Media dauerhaft und nachhaltig zu bespielen, muss darüber hinaus die Unternehmenskultur passen. Ganz zu schweigen davon, dass es sich bei Social Media um geschlossene Netzwerke handelt. Nur diejenigen, die diese Plattformen nutzen, können den Content sehen bzw. damit interagieren. Der dank ausgefeilter Algorithmen und mangelnder Relevanz immer weniger Nutzern angezeigt wird und damit im Nichts verpufft. Hingegen sind Website-Inhalte für alle zugänglich. Vorausgesetzt, sie sind auffindbar. Was wiederum unwahrscheinlich ist, wenn nur 5,1 Prozent der Befragten auf SEO im Recruiting setzen. SEO ist Pflicht im Recruiting (und nicht nur da). Wer gefunden werden möchte, sollte sich mit der Thematik auseinandersetzen und eine Web-Agentur diesbezüglich briefen (die das Thema aber leider Gottes allzu oft nicht auf dem Schirm haben respektive selbst die Basics nicht beherrschen. Das gilt übrigens auch für die Themen UX und Recruiting-Know-how, aber das nur am Rande).
Social Media bedeutet intensiven Ressourcen-Einsatz
Diese Überlegungen finden aber nur selten statt, man macht einen Trend mit, weil ja alle mitmachen – das sah man damals sehr schön an unüberlegt gestarteten Facebook-Karriereseiten, deren Überreste einem noch dann und wann traurig und verlassen entgegen winken und sieht es jetzt eben auf anderen Netzwerken, wo nicht einmal so viele Fans/Follower/Habenichtse aka Influencer einem Account folgen, wie die Anzahl der Mitarbeiter des dort vertretenen Unternehmens (was neben ungepflegten Recruiter-Profilen auf XING/LinkedIn an sich schon ein Zeichen dafür ist, dass man seinen Social Media-Auftritt in blindem Aktionismus gestartet hat). Ein anderes Beispiel für dieses Mitläufertum sieht man auch am Gendern, das zunehmend zum Leidwesen von Jobsuchenden auch im Recruiting einzieht und damit trotz überwiegender Ablehnung und Benachteiligung großer Teile der Bevölkerung potenzielle Bewerber in die Flucht schlägt.
👉🏼 Lesen Sie hier, warum Sie im Recruiting nicht gendern sollten.
Social Media Recruiting so wichtig wie Stellenanzeigen?
Das ficht die Damen und (gelegentlich auch) Herren in den deutschen Personalabteilungen nicht an. Denn gemäß Recruiting-Report stimmen 73 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass Social Media für ihre Unternehmen genauso wichtig ist wie herkömmliche Jobbörsen, tendenziell oder komplett zu. Immerhin: Die Stellenanzeige bleibt dennoch das wichtigste Recruiting-Instrument, satte 80 Prozent sind dieser Meinung. Nur etwa vier Prozent sehen das anders. Allerdings: So, wie die Stellenanzeigen heute aussehen, locken die niemanden hinterm Ofen hervor – ganz egal, welchen Geschlechts, welcher Gesinnung, Glaubensrichtung, Herkunft oder Hautfarbe oder was auch immer.

Zusammenfassend: Es läuft viel schief im Recruiting. Unternehmen setzen mit Social Media-Recruiting aufs falsche Pferd, vernachlässigen wichtige Kanäle und lassen sich mit lausigen Budgets abspeisen. Ach, wie gut, dass wir den Fachkräftemangel haben. Der kann dann wieder herhalten, wenn Stellen aufgrund mangelnder Ressourcen und fehlender Strategien nicht besetzt werden.
Hier können Sie den kompletten index Recruiting Report 2022 herunterladen.
Chris
Recruiter