Digitalisierung im Recruiting: Tendiert die digitale Kompetenz der Personaler wirklich gegen null?

Lesezeit: 8 Min. HRRecruiting

“Leider tendiert die digitale Kompetenz der Personaler gegen null”. Dieses Zitat greife ich bei passenden Gelegenheiten immer wieder gerne auf. Etwa in meinen 6 Thesen zu HR, Recruiting und Digitalisierung – und dem Fachkräftemangel. April 2015 war es, als Thomas Sattelberger den legendären Tweet absetzte, der auch fünf Jahre später nichts von seiner Aktualität verloren hat. Oder? Tatsächlich räumen HR- und Recruiting-Verantwortliche gemäß einer aktuellen Studie von StepStone und dem BPM (Bundesverband der Personalmanager (m/w/d)) fehlendes Know-how und mangelnde Erfahrung in Sachen Digitalisierung und Recruiting ein. Nun, Selbsterkenntnis ist bekanntlich der erste Schritt zur Besserung. Grund genug, einen weiteren Blick in die Ergebnisse von “Digitales Bewerben und Recruiting im Praxistest”, so der Titel der Studie, zu werfen.

Teilgenommen an dieser in diesem Umfang wohl einmaligen Studie haben insgesamt 2.600 Personalmanager und 10.200 Kandidaten. Die erste Online-Befragung im Januar 2020 vermittelt einen tiefgehenden Einblick in das Meinungsbild sowie die Erfahrungswelt von Recruitern und Kandidaten gegenüber digitalen Instrumenten im Recruiting. Die zweite Befragung vom Mai 2020 zeigt auf, welche Auswirkungen die Corona-Krise auf die Arbeit von HR hat. Die Studie gibt somit einen aktuellen Überblick über den Status quo der Digitalisierung des Recruitings in Deutschland.

Tendiert die digitale Kompetenz der Personaler wirklich gegen null?

Da ist es doch erfrischend, wenn zugegeben wird, dass “hinreichendes Wissen über die Stärken und Schwächen für den erfolgreichen Einsatz der wichtigsten Instrumente auf dem Markt” fehlt. Nun, ich gebe zu, erfrischend ist das wegen der Offenheit. Erschreckend und beschämend ist es, dass auch im Jahr 2020 immer noch nicht die strategische Bedeutung von Recruiting in den Unternehmen angekommen ist und für viele Personaler die Digitalisierung immer noch ein Buch mit sieben Siegeln und das Internet Neuland ist (das gilt natürlich nicht für Sie, schließlich lesen Sie diesen Blog ;-)). Das fügt doch dem im Kontext einer Suche nach “Personaler sind …” von Google per Autocomplete vorgeschlagenen Begriff gleich wieder eine weitere Facette hinzu:”… nicht digital affin”…

Welche Auswirkungen hat Corona auf die Digitalisierung im Recruiting?

BPM und StepStone wollten im Rahmen der Umfrage Antworten auf folgende Fragen:

  • Wie verändert sich Recruiting im Zuge und in Folge der Corona-Krise?
  • Wie digital rekrutiert Deutschland im Jahr 2020?
  • Wie sehen Bewerber die zunehmende Digitalisierung von Bewerbungsprozessen und wie bewerten sie ihre Kenntnisse und bisherigen Erfahrungen?
  • Wie digital sind HR respektive das Recruiting aufgestellt?
  • Zu welchem Grad setzen Personalabteilungen bereits auf Big Data und künstliche Intelligenz?
  • Welche der Instrumente Live-Videointerview, Active Sourcing, Text- und SEO-Analytics, Zeitversetzte Videointerviews, E-Assessment-Tools, Predictive Analytics, Chatbots/Sprachanalyse, Digitale Cultural-Fit-Tests, Gesichts-/Sprachanalyse, Virtueller Recruiter werden genutzt?

Nun, dass Corona zum Turbo für Homeoffice und Digitalisierung wird und Homeoffice und Remote Work zum Turbo fürs Recruiting und Employer Branding werden, hatte ich bereits in meinem letzten Blogartikel ausgeführt. Wie aber Personaler respektive fürs Recruiting Verantwortliche ihre “Digitalkompetenzen” einschätzen, das verrät uns die Studie, aus der ich nachfolgend ein paar Rosinen herausgepickt habe.

Nur jeder dritte Recruiter bezeichnet sich selbst als “digital”

So bezeichnen sich etwas mehr als ein Drittel (35 Prozent) der befragten Recruiter selbst als digital. Das sind zwar im Durchschnitt 5 Prozent mehr als bei der ersten Umfrage vor Corona im Januar.

Digitale Affinität von Personalmanagern - Quelle Digitales Bewerben und Recruiting im Praxistest

Trotzdem stellen Personaler, für die die Digitalisierung (nicht nur) im Kontext Recruiting böhmische Dörfer darstellen, die überwältigende (und beschämende) Mehrheit dar. Wie man Neutralität bei Digitalaffinität definiert, ist mir hingegen nicht klar. Also weder digital affin noch nicht-digital affin? Heißt für mich: 65 Prozent sind nicht digital affin. Möglicherweise irre ich mich aber auch. Licht ins Dunkel bringen könnte jemand, der an der Studie teilgenommen und “neutral” angegeben hat und darüber hinaus diesen Blog liest. Freiwillige vor!

Zur Ehrenrettung sei gesagt, dass diese Personaler möglicherweise in Unternehmen wirken, in denen die IT zwar vor bösen cloudbasierten E-Recruiting-Anwendungen warnt, wo aber immer noch mit dem Internet Explorer oder auch dem Flashplayer gearbeitet wird oder die Geschäftsführung zwar leidenschaftlich gerne auf dem Smartphone daddelt, die (Karriere-)Website aber zuletzt 2010 aktualisiert wurde. Möglicherweise.

Wo das nicht der Fall ist, nutzten digital affine Recruiter (in vermutlich generell digital affineren Unternehmen) übrigens schon vor der Corona-Krise die Errungenschaften der Digitalisierung überwiegend erfolgreich. Und haben in Sachen Remote Recruiting und Remote Onboarding klar die Nase vorn. Das zeigen auch die Erfahrungen der in der virtuellen HR-und Recruiting-Community #KeineHRAlleinZuhaus vertretenen Mitglieder.

“Wir müssen offener dafür werden, digitale und datenbasierte Werkzeuge auszuprobieren und den Mehrwert für die eigene Personalrekrutierung zu bewerten.” Yasmin Kurzhals, BPM

Video-Interviews als Katalysator fürs (Remote) Recruiting

Während sich Video-Interviews als digitales Pendant des klassischen Bewerbungsgesprächs zum zentralen Instrument im Recruiting entwickelt haben – Anfang 2020 setzte nur gut jedes dritte Unternehmen virtuelle Bewerbungsgespräche ein, im Mai 2020 sind es dagegen bereits 60 Prozent -, verzeichneten andere Instrument keinen nennenswerten Zuwachs in diesem Zeitraum. Was mich persönlich schon wundert, hört man doch allenthalben von Anbietern von E-Assessments und Online-Eignungstests, dass es da einen regelrechten Run gab bzw. gibt.

Digitalisierung im Recruiting - diese Tools sind im Einsatz

Active Sourcing nach Video-Interviews das meistgenutzte “Recruiting-Tool”

Immerhin 38 Prozent der Personalabteilungen betreiben nach eigener Aussage Active Sourcing und “durchsuchen Lebenslaufdatenbanken auf passende Kandidaten hin“. Dass Active Sourcing mehr als nur “Lebenslaufdatenbanken durchsuchen” oder auch die Nutzung des XING-Talentmanagers bedeutet und das richtige Mindset braucht, sei nur am Rande erwähnt. Überrascht hat mich die Aussage, dass rund ein Viertel (23 Prozent) “Text- und SEO-Analysen” nutzt, “um die eigenen Stellenanzeigen zu optimieren“. Ich setze die Antworten bewusst in Anführungszeichen, weil ich mir nicht sicher bin, ob die digitale Kompetenz der Befragten ausreichte, die Fragen wirklich zu verstehen und dementsprechend zu antworten. Dieser Eindruck bekräftigt sich bei der Aussage, dass 16 Prozent der Befragten “laut eigenen Aussagen bereits auf sogenannte Predictive Analytics setzen, um die Entwicklung des eigenen Personalbedarfs und/oder des Arbeitsmarktes zu analysieren“.  Nun, wird schon stimmen. 20 Prozent setzen auf E-Assessment-Tools.

Während Video-Interviews in Echtzeit zwar hoch im Kurs sind, setzen nur 19 Prozent der Befragten auf das zeitversetzte Pendant. Chatbots sind mit 12 Prozent Zustimmung dagegen noch eher wenig im Einsatz. Was sinnvoll ist, weil es bis dato nur wenig ausgereifte Lösungen gibt und Bewerber den digitalen Helferlein gegenüber eher skeptisch eingestellt sind. 10 Prozent der befragten Unternehmen setzen auf Gesichts- und Spracherkennung. Das wären 260 Unternehmen. Kaum vorstellbar. Wie viel Recruiter auf die Dienste eines Profilers Vertrauen, wurde leider nicht abgefragt. Dafür ist bei 9 Prozent der befragten Unternehmen ein “virtueller Recruiter” im Einsatz. So so, ein virtueller Recruiter also. Da würde mich doch mal interessieren, wie der aussieht und bei welchen Unternehmen dieser im Einsatz ist. Der seinerzeit bei den Kollegen der Wollmilchsau vorgestellte Recruiting-Roboter (bzw. die Roboterin, wir sprechen von Vera) hat zumindest seinen Dienst quittiert.

Personaler geben sich gute Noten in Sachen Digitalisierung und Recruiting

Auch wenn die Vielfalt der eingesetzten Instrumente überschaubar ist, trauen sich Personaler ihren erfolgreichen Einsatz durchaus zu. Die Teilnehmer der Studie haben ein sehr positives Selbstbild von ihren Fähigkeiten: Über die Hälfte (51 Prozent) beurteilt die eigenen Fähigkeiten mit den Schulnoten “gut” (39 Prozent) oder sogar “sehr gut” (12 Prozent). Das nenne ich gesundes Selbstvertrauen. Oder anders gesagt: ein gnadenlos überzeichnetes Selbstbild (und wie wir wissen, orientiert sich das Selbstbild stark an dem Ideal- oder Wunschbild, also dem, wie wir sein wollen, nicht unbedingt wie wirklich sind, Stichwort blinder Fleck und Johari-Fenster).

7 Prozent der Personaler bleiben sitzen

29 Prozent der Befragten schätzt seine Kompetenzen hinsichtlich der Anwendung digitaler und datenbasierter Instrumente “befriedigend” ein. 13 Prozent geben sich eine Vier, 6 Prozent schätzen ihre Kenntnisse “mangelhaft” ein und 1 Prozent bewerten ihre Kompetenzen sogar als “ungenügend”. Wenn man so will, bleiben also 182 Teilnehmer sitzen. Aber auch die, die ihre Kompetenzen mit befriedigend oder ausreichend einschätzen, tun gut daran, ordentlich zu büffeln. Aber ich will nicht allzu hart mit Ihnen ins Gericht gehen und ich weiß, es gibt sie, die wirklich digital affinen Recruiter da draußen. Und für alle anderen gibt’s bspw. die Plattform digital-recruiter.com, zu deren Nutzung ich Sie gerne ermuntere. Hier habe ich eine Liste lesenswerter Bücher für Sie bereitgestellt.Digitale Bewerbung und Recruiting - Selbsteinschätzung von HR und Kandidaten

Digitalkompetenzen bei Bewerbern deutlich stärker ausgeprägt als bei Recruitern

Besonders frappierend finde ich die enorme Diskrepanz bei der Wahrnehmung der eigenen Digitalkompetenzen zwischen Personalern und Bewerbern (wobei ich auch hier manche Fragestellung bzw. Auswahlkriterien nicht verstehe. Was ist bspw. ein “Automatisches Bewerbungsformular“? Die Vorstufe eines sich nach der Bewerbung selbst zerstörenden Bewerbungsformulars?). Mehr als doppelt so viele der Bewerber stufen Ihre Digitalkompetenz im Kontext Bewerbung als “sehr gut” ein, auch mit “gut” schätzen sich mehr Bewerber als Personaler ein. Mangelhafte Kenntnisse glaubt nur ein Prozent der Beteiligten zu haben. Die Studie bestätigt das, was andere und ich schon lange postulieren: die digitale Kompetenz auf Bewerberseite ist deutlich größer als bei HR und Recruiting.

“Getrieben durch vorrangig demografische Faktoren sind Bewerber heute gegenüber potentiellen Arbeitgebern in einer deutlich stärkeren Position als noch vor einigen Jahren. […] Gerade hier könnte eine zunehmende Digitalisierung dieses Rollenbild weiter zugunsten der Kandidaten verschieben und Unternehmen zwingen, ihre Herangehensweisen an Komunikation und Rekrutierung deutlich zu überdenken.”

Das schrieb Oliver Erb in seinem Artikel “Wie Kandidaten HR in der Digitalisierung abhängen werden” bereits 2017 auf personalblogger.net. In Zeiten von VUCA und Digitalisierung also eine gefühlte Dekade.

Kandidaten in einer deutlich stärkeren Position als die Unternehmen

Dass die Digitalisierung auch 2020 in den Personalabteilungen immer noch nicht angekommen ist, wie die Studie eindrucksvoll belegt, gibt zu denken. Klar sollte allen Beteiligten sein, dass das Tempo, in dem sich die digitale Welt derzeit außerhalb vieler traditioneller Unternehmen dreht (und dank Corona eine massive Beschleunigung erfährt), die Arbeitgeber abhängen wird, die sich mit den neuen Tools (von denen der überwiegende Teil der relevanten nicht wirklich neu ist) nicht vertraut machen und insbesondere das erforderliche Mindset nicht mitbringen, um sich diesen Herausforderungen zu stellen. Womit wir wieder zu Beginn meines Artikels wären, beim Zitat von Herrn Sattelberger und meinen sechs Thesen zu HR, Digitalisierung und Recruiting.

Hier finden Sie weitere Ergebnisse sowie den Download der Studie “Digitales Bewerben und Recruiting im Praxistest”.

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Moin! Ich bin Henner Knabenreich. Seit 2010 schreibe ich hier über Personalmarketing, Recruiting und Employer Branding. Stets mit einem Augenzwinkern oder den Finger in die Wunde legend. Auf die Recruiting- und Bewerberwelt nehme ich auch als Autor, als Personalmarketing-Coach, als Initiator von Events wie der HR-NIGHT oder als Speaker maßgeblich Einfluss auf die HR-Welt. Sie möchten mich für einen erfrischenden Vortrag buchen, haben Interesse an einem Karriere-Website-Coaching, suchen einen Partner oder Berater für die Umsetzung Ihrer Karriere-Website oder wollen mit bewerberzentrierten Stellenanzeigen punkten? Ob per E-Mail, XING oder LinkedIn - sprechen Sie mich an, ich freue mich auf Sie!
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