16. November 2023
Das mentale Modell im Kontext von Karriereseiten und Recruiting
Lesezeit: 9 Min. Karriere-WebsitesRecruiting
Heute möchte ich Sie einmal mit dem mentalen Modell vertraut machen. Genauer gesagt: mit dem mentalen Modell im Kontext von Karriereseiten. Ein Blick (nicht nur) auf viele Karriere-Websites zeigt deutlich, dass sich viele Unternehmen (oder auch Designer/Entwickler/Agenturen/Recruiting-Software-Anbieter) nur wenig Gedanken über den Nutzer, seine Erwartungen und Bedürfnisse machen.
Anstatt sich an Web-Konventionen zu halten und (aus gutem Grund) an Altbewährtem festzuhalten, möchte mancher seinen Spieltrieb ausleben und auf Kosten der Nutzer mal ganz was Verrücktes machen, um ja aufzufallen. Oder man setzt (immer noch) auf den Bewerber als Erfüllungsgehilfen der Personalabteilung. Damit werden die Erwartungen der Nutzer und eben ihr mentales Modell mit Füßen getreten. Die Folge: Sie verlieren die Orientierung auf Ihrem Karriereportal und im schlimmsten Fall die Lust, sich zu bewerben. Dass sich dieser Spieltrieb oder die Geringschätzung der Bewerber für Sie bitter rächt, sollte eigentlich klar wie ein Bergsee sein.
Mentales Modell basiert auf Erfahrungen
Auch wenn viele Unternehmen (oder Agenturen) es scheinbar nicht für möglich halten (oder es ihnen egal ist) – kaum zu glauben, aber wahr: Ein Nutzer Ihrer Karriereseite hat bestimmte und sehr konkrete Erwartungen darüber, wo sich bestimmte Elemente befinden, wie sie funktionieren, welche Schritte er unternehmen muss, um ein Ziel zu erreichen, oder was passiert, wenn er auf diesen oder jenen Button klickt. Diese Erwartungen werden als mentales Modell bezeichnet. Im Grunde genommen ist ein mentales Modell das, was der Benutzer über ein System oder ein Produkt denkt und wie er glaubt, dass es funktionieren könnte. So ein System ist dann bspw. Ihre Karriereseite, Ihre Stellenbörse oder auch der Bewerben-Button und das Bewerbungsformular.
Das mentale Modell basiert nicht auf Fakten, sondern vor allem auf den Erfahrungen, die jeder Einzelne in der Vergangenheit gemacht hat, und auf dem, was er glaubt, über das System (Karriereseite, Stellenbörse, Bewerbungsprozess, etc.) zu wissen. Ich erzähle Ihnen jetzt etwas, was Sie wahrscheinlich nicht für möglich gehalten hätten: Nutzer verbringen mehr Zeit auf anderen Websites als auf Ihrer eigenen. Denn Jobsuchende sind nicht dauerhaft auf Jobsuche, sondern gehen die meiste Zeit ihres Lebens anderen Aktivitäten nach. Vor allem aber besuchen sie jede Menge Websites, die eben nicht Ihre Karriereseite sind.
Das Erleben und Verstehen Ihrer Karriereseite wird durch andere Websites beeinflusst
Und so wird ein Großteil der mentalen Modelle, die potenzielle Bewerber in Bezug auf Ihre Karriereseite haben, durch Informationen oder Gewohnheiten beeinflusst, die sie auf anderen Websites wie Google, Amazon, Youtube, Netflix, Wikipedia, Lieferando und vielen anderen erfahren haben. Menschen erwarten also, dass sich Websites ähnlich verhalten, dass eine Funktion, die auf Website A zu Resultat X geführt hat, auch auf Website B so funktioniert. Das habe ich mir nicht ausgedacht, sondern UX-Guru Jakob Nielsen. Er nennt das „Jakob’s Law of Internet User Experience“ und bringt damit auf den Punkt, was einem der gesunde Menschenverstand sagt und was die eigene Erfahrung am lebenden Objekt bestätigt.
Eine Bewerbung genauso unkompliziert gestalten wie eine Bestellung bei Lieferando
Das Problem ist allerdings, dass weder Recruiting-Verantwortliche noch viele Agenturen und am wenigsten die Anbieter von Recruiting-Software (mit sehr, sehr wenig Ausnahmen) ein klares UX-Verständnis haben, sprich, dass sie den User in den Mittelpunkt stellen. Nach Jakob’s Law (und gemäß dem mentalen Modell) erwartet der Nutzer also – und das aber so was von zu Recht! – dass eine Bewerbung mindestens genauso unkompliziert zum Abschluss gebracht werden kann, wie eine Bestellung bei Amazon oder Lieferando, Banking per Smartphone, die Kontaktaufnahme per WhatsApp oder der Weg zum schnellen Liebesglück bei Tinder. Okay, zugegeben, letzteres mag auf den ersten Blick einfach erscheinen, ist aber oft sogar noch beschwerlicher als eine Online-Bewerbung. Was schon was heißen will, wie leidgeprüfte Jobsuchende wissen, die “Bewerbers worst day” mit Recruiting-Software wie Workday, Successfactors oder anderen Bewerbervermeidungs-Systemen erlebt haben.
Nutzerzentrierte Karriereseiten nicht dem Spieltrieb anderer opfern
Diese Überzeugungen und Erwartungen, die wir auf und von vielen anderen Websites erfahren und übernehmen und jeden von uns prägen, beeinflussen also auch die Art und Weise, wie Sie Ihre Karriere-Website, Ihre Jobsuche/Ihr Jobportal oder eine Stellenanzeige und den gesamten Bewerbungsprozess idealerweise gestalten sollten – nämlich daran orientiert, wie Nutzer auf der Grundlage ihres mentalen Modells handeln. Und nicht an Ihrem Spieltrieb, Ihrem Ego oder dem des Designers, der aus dem Käfig der üblichen Web-Konventionen ausbrechen und mal ganz was Verrücktes machen will. Ganz zu schweigen von den Anbietern von Recruiting-Software, die nur allzu häufig in alten Paradigmen verhaftet sind und von nutzerzentrierten und zeitgemäßen Anwendungen ungefähr so viel verstehen wie unser “Klimakanzler” vom Klimawandel.
Wenn das System nicht funktioniert, sind Irritation und Verwirrung vorprogrammiert
Wenn das System nämlich nicht so funktioniert, wie der Nutzer es erwartet, führt das zu Irritationen und Verwirrung. Und das gilt natürlich auch im Kontext Recruiting bzw. im Kontext von Karriereseiten. Zwei Beispiele sollen das illustrieren, erst ein allgemeines, dann ein Recruiting bzw. Karriereseiten-spezifisches. So haben etwa die meisten Menschen gelernt, dass der Zurück-Button sie immer nur einen Schritt zurück in den vorherigen Zustand des Systems bringt. So funktioniert ihr mentales Modell (und so sollte die Website idealerweise funktionieren). Das Problem: Häufig funktioniert es eben nicht so, wie man es erwartet. So hält man es z. B. für selbstverständlich, dass man nach dem Öffnen eines Popups, eines Bewerbungsformulars oder eines Akkordeon-Elements beim Klick auf den Zurück-Button an die vorherige Position zurückspringt – und nicht auf die zuvor besuchte Seite. Im schlimmsten Fall werden dann sogar alle Formularfelder gelöscht, die man ausfüllen musste, obwohl man seinen Lebenslauf hochgeladen hatte und muss wieder von vorn anfangen. Oder aber es wurde eine Seite in einem neuen Tab geöffnet, was man so gar nicht wahrgenommen hatte, etwa eine Stellenanzeige und/oder ein Bewerbungsformular, und dort ist der Zurück-Button dann gar nicht verfügbar.
Karriereseiten und Bewerbungsprozess erwartungskonform gestalten
Im Kontext Karriereseite könnte es bspw. der Jobs-Button sein, der einen, so zumindest suggeriert es die Bezeichnung “Jobs”, auf eine Seite mit den Stellenangeboten führt. Oft landet der User dann aber auf der Karriereseite, anstatt bei den Jobs. Oder, schlimmer noch, landet auf einer Seite, auf der dann verkündet wird, dass der Nutzer zu den Stellenangeboten gelangt, wenn er auf den Button “Zu den Stellenangeboten” auf der gerade aufgerufenen Seite klickt. Oder wenn er sich (vermeintlich) per CV bewerben kann und dann trotzdem seine Daten eingeben muss. Oder wenn er sich (vermeintlich) innerhalb von 5 Minuten “ganz einfach online bewerben” kann, dann aber doch erst einmal eine Zwangsregistrierung à la Successfactors über sich ergehen lassen muss.
Auch wenn die Karriereseite mit der Lösung eines Recruiting-Anbieters verknüpft wird (z. B. externes Jobportal, externe Azubiseite, Bewerbungsformular etc.), erlebt der Nutzer oft sein blaues Wunder, weil er weder ein einheitliches (= erwartetes) Layout noch eine einheitliche (= erwartete) Menüstruktur vorfindet. Weitere Beispiele für das mentale Modell der Nutzer und wie dieses in der Realität kontinuierlich verletzt wird, habe ich Ihnen in der nachfolgenden Tabelle aufbereitet (ATS = „Applicant Tracking System“, zu Deutsch: Bewerbermanagement-Software).
Entspricht die UX der Karriereseite nicht dem mentalen Modell, kostet das Bewerber
Das Problem: Entspricht die UX der Karriereseite (oder die UX der Reruiting-Software, die häufig leichtsinnigerweise auch als Jobportal genutzt wird) nicht dem mentalen Modell Ihrer (potenziellen) Bewerber, kostet Sie das Bewerber. Und zwar reichlich. Warum? Weil es für einen Nutzer sehr schwierig werden kann, zu verstehen, was da gerade passiert ist und was er im nächsten Schritt tun sollte, wenn es eine Diskrepanz zwischen seinem mentalen Modell und Ihrer Karriereseite, Ihrem Jobportal, Ihrem Bewerbungsprozess … gibt.
Das gilt übrigens nicht nur für wenig erfahrene Internetnutzer, sondern für eingefleischte Online-Nerds. Ich habe wirklich Tausende von Karriereseiten gesehen und was ich da zu Gesicht bekommen habe, bereitet mir zuweilen echt Albträume.
“The web experience is so much worse, on average, and so much more dysfunctional than even the most mundane shitty native app that most people have access to.” Quelle
Und selbst wenn der Nutzer versteht, was da vor sich geht, kann es vorkommen, dass er sich für die Fehler verantwortlich fühlt, die wenig kompetente Designer/Entwickler/Agenturen/Recruiting-Software-Anbieter zu verantworten haben. Oder er fühlt sich überfordert (was wenig verwundert, wenn man sich die E-Recruiting-Systeme vieler Anbieter anschaut, die immer noch getreu der Devise “der Bewerber als Erfüllungsgehilfe der Personalabteilung” gestaltet und von Unternehmen auch so auf ihren Karriereseiten eingebunden werden), oder bekommt den (zutreffenden) Eindruck, die Karriere-Website funktioniere nicht ordentlich.
Negative Erfahrung mit der Karriereseite führt zu Bewerbungsabbrüchen
All dies kann dann dazu führen, dass der Nutzer sich nicht verstanden oder wertgeschätzt fühlt, Ihre Karriere-Website als unprofessionell wahrnimmt und aufgrund der negativen Erfahrungen Ihre Karriereseite verlässt oder den Bewerbungsprozess abbricht, um sein Glück beim nächsten Arbeitgeber zu versuchen, der ihm ihn umgarnend zu Füßen liegt. Was für Sie fatal wäre. Denn leisten können Sie sich das nicht, schließlich lauert der nächste Arbeitgeber nur einen Mausklick entfernt. Was Sie aber nicht davon abhält, solche Finessen in Ihre Bewerbervermeidungsstrategien aufzunehmen.
Ignoranz der Personaler befeuert Besetzungsprobleme
Klar, schließlich haben Sie keine Ressourcen. Und wenn der Mensch nicht bereit ist, sich mit Ihrer haarsträubenden Karriereseite oder dem noch haarsträubenderen Bewerbermanagement-Tool auseinanderzusetzen, wollen Sie den sowieso nicht haben, nicht wahr? Schließlich sollen die sich mal ein bisschen Mühe geben. Obwohl 62 % der Unternehmen den Fachkräftemangel seit Jahren als größtes Geschäftsrisiko wahrnehmen (Tendenz munter steigend), der Spaß die deutsche Wirtschaft nach Berechnungen von Boston Consulting Jahr für Jahr 86.000.000.000 Euro kostet und die Vakanzzeiten sukzessive steigen, gibt es tatsächlich noch genügend Personaler, die so denken. Dass diese ihren Job verfehlt haben, sollte klar sein. Trotzdem legt ihnen keiner die Zügel an bzw. lässt man sie schalten und walten, als sei der Bewerbermarkt ein Schlaraffenland. Hier handelt nicht nur HR grob fahrlässig, auch die Unternehmensführung sollte sich hinterfragen.
Potenzielle Bewerber sind nicht das Versuchskaninchen für ein Design fernab jeglicher Nutzerfreundlichkeit
Es ist enorm wichtig, die mentalen Modelle Ihrer Nutzer zu verstehen und Kandidaten in den Mittelpunkt zu stellen (Candidate Centricity), um sicherzustellen, dass Sie eine Karriereseite, eine Jobsuche und einen Bewerbungsprozess gestalten, die diesen Erwartungen entsprechen. Und nicht Ihre Wünsche nach einem möglichst bequemen Bewerbungsprozess oder einer Firlefanz-und-Bling-Bling-Karriereseite, um sich selbst ein Denkmal zu setzen und/oder einen Award dafür einzuheimsen. Tatsächlich passiert es immer wieder, dass Karriereseiten mit Auszeichnungen wie dem HR Excellence Award gekürt werden – nicht weil sie mit einer überzeugenden Candidate Journey und nahtlos integrierten Bewerbungsprozessen überzeugen, sondern weil sie die in der Regel wenig kompetente Jury mit Firlefanz und Bling-Bling blenden.
👉🏻 Merke: Ein potenzieller Bewerber ist weder der Erfüllungsgehilfe der Personalabteilung noch das Versuchskaninchen für einen neuen Webtrend, für ein Design fernab jeglicher Nutzerfreundlichkeit oder für die Inkompetenz und Ignoranz der Anbieter von Recruiting-Software. Denn dann ist er die längste Zeit ein potenzieller Bewerber gewesen. Zumindest, was seine Entscheidung für Sie als potenziellen Arbeitgeber betrifft.
Wann werden Sie das endlich begreifen?
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Senior Recruiter
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Regina Bergdolt