Die 100 %-Lüge: Bewerben sich Frauen wirklich weniger als Männer, wenn sie nicht exakt den Anforderungen entsprechen?

Lesezeit: 15 Min. PersonalmarketingRecruitingStellenanzeigen

Seit vielen Jahren hält sich hartnäckig die Aussage, dass Frauen deutlich kritischer sind, wenn es um das Thema Bewerbung geht. Insbesondere eine Behauptung geistert durch die Recruiting-Szene, zuletzt erwähnt im LinkedIn Gender Insights Report Deutschland. Demnach, so heißt es, sind Männer deutlich schmerzfreier als Frauen, wenn es darum geht, ihre Qualifikationen mit den in der Stellenanzeige genannten Anforderungen abzugleichen und sich zu bewerben. Während die Herren (m/w/d) der Schöpfung sich bereits bewerben, wenn sie nur 60 Prozent der geforderten Job-Qualifikationen erfüllen, klicken Frauen den Jetzt-bewerben-Button erst dann, wenn sie zu 100 Prozent den (zugegebenermaßen) meist überzogenen Wünschen der Recruiting-Abteilungen respektive Fachabteilungen entsprechen. Was natürlich ein Problem wäre. Aber stimmt das eigentlich? Woher kommen diese Zahlen überhaupt? Und was sagen aktuelle Studien dazu?

Dass es sinnvoll ist, Frauen möglicherweise anders anzusprechen als Männer, ist, so denke ich klar (wobei man immer die Schublade verlassen sollte, in der man steckt und die Zielgruppe im Blick haben sollte. Was im Recruiting leider viel zu selten passiert. Mit ein Grund übrigens für das, was wir als Fachkräftemangel empfinden). Wie das funktionieren kann, habe ich in meinem letzten Blogartikel ausführlich dargestellt. Gendern gehört übrigens nicht dazu, aber warum man vom Gendern im Recruiting absehen sollte, hatte ich an anderer Stelle ebenso ausführlich dargestellt.

Bewerben Frauen sich wirklich nur, wenn sie zu 100 Prozent den Anforderungen entsprechen?

Auch ich bin übrigens auf die Aussage reingefallen bzw. habe sie für bare Münze genommen, dass sich Frauen erst dann bewerben, wenn sie zu 100 Prozent die Anforderungen einer Stelle erfüllen, Männer aber deutlich entspannter sind – und ihnen je nach Quelle – bereits 60 oder sogar 40 Prozent ausreichen, sich zu bewerben.

Ich bin – und das ist eher untypisch für mich – blind den Lemmingen gefolgt, die diese Aussage gierig aufgesogen und nie hinterfragt haben. Denn klar, wenn die Rede von einer “internen HP-Studie” ist und diese dann sogar in (Online)-Magazinen wie The Atlantic, Forbes, Harvard Business Review, der Süddeutschen Zeitung und darüber hinaus in dem Millionen-Bestseller “Lean in” (nicht zu verwechseln mit LinkedIn) von Sheryl Sandberg zitiert wird (tatsächlich nahm das Übel hier seinen Ursprung), dann muss was Wahres dran sein. Oder?

Nun bin zwar nachweislich keine Frau – manche bezeichnen mich als (mittel-)alten weißen Mann und liegen damit weitgehend richtig, denn ich bin zwar weiß (aktuell leicht sonnengebräunt) von der Haut-, aber nicht von der Haarfarbe (diese ist braun mit grauen Schläfen) -, dennoch erlaube ich mir, diese Aussage zu hinterfragen. Bzw. mich auf die Suche nach der Quelle zu machen. Denn ich behaupte ungern oder zitiere ungern Sekundärquellen, sondern möchte meinen Leserinnen und Lesern Fakten präsentieren und ihnen die Augen öffnen. Fakten, das weiß ich, die manchmal wehtun und deswegen auch gern ignoriert werden. Aber ich schweife ab.

„Die meisten Frauen bewerben sich nur dann, wenn der Anforderungskatalog der Stellenanzeige und ihr persönliches Profil deckungsgleich sind.“ Quelle

Jobsuchende bewerben sich nicht, wenn die Anforderungen überzogen sind

Also zurück zum Thema: Frauen bewerben sich nicht, wenn sie nicht zu 100 Prozent den Anforderungen entsprechen. Das wäre für den Recruiting-Erfolg eher unerfreulich und würde zwei Dinge bedeuten:

  1. Entweder sind die Bewerber, in diesem Falle -innen, einfach nicht qualifiziert genug
  2. Anforderungen sind überzogen

Es ist unstrittig, dass es sowohl Bewerberinnen als auch Bewerber gibt, die nicht qualifiziert sind, um einen Job zu erfüllen (wobei man auch diese Aussage hinterfragen muss, denn hier kommen wir zum nächsten Punkt). Anforderungen sind nachweislich überzogen. Da hilft bspw. ein Blick in die Azubi-Recruiting-Trends 2017:

Unternehmen nehmen ihre Anforderungsprofile selbst nicht ernst

Demnach nehmen die Ausbildungsbetriebe ihre eigenen Anforderungsprofile selbst nicht ernst:

  • Bei 61,4 Prozent von ihnen müssen „nicht alle“ Anforderungen erfüllt sein, damit sie eine Bewerbung berücksichtigen.

Das Problem – und zwar unabhängig vom Geschlecht – Azubi-Bewerber nehmen es mit den Anforderungsprofilen deutlich ernster:

  • 19,1 Prozent bewerben sich nur, wenn sie alle,
  • 29,7 Prozent wenn sie vier von fünf Anforderungen erfüllen.

Personaler nehmen mehr Anforderungen in die Stellenanzeige auf, als tatsächlich erfüllt werden müssen

Ein Jahr später sieht das auch in einer anderen Umfrage (azubi.report 2018) nicht besser aus. Auch diesen Erkenntnissen zufolge nehmen Personaler hier mehr Anforderungen in die Stellenanzeige auf, als tatsächlich erfüllt werden müssen.

  • Demnach sind 20 Prozent der Personaler der Meinung, dass Bewerber die Anforderungen komplett erfüllen müssen,
  • 54 Prozent reicht es aus, wenn die Anforderungen zu mindestens 2/3 erfüllt sein müssen,
  • 18 Prozent reicht es aus, wenn mindestens 1/3 erfüllt werden.

Nun kann man sich schon die berechtigte Frage stellen, warum die Anforderungen nicht gleich so gestellt werden, dass sie erfüllbar sind? Diese Fragen stellen sich die Azubi-Bewerber, unter denen natürlich auch weibliche sind, übrigens auch.
Während das Zahlen aus 2017 und 2018 sind, bin ich mir zu 100 Prozent sicher – nein, ich weiß es aus eigenen Erfahrungen und Projekten – es sieht auch 2021 nicht besser aus. Beweisen Sie mir gerne das Gegenteil!

Anforderungsprofile zu unspezifisch formuliert

Was ja auch nicht wirklich ein Wunder ist. Sind Anforderungsprofile doch generell zu unspezifisch formuliert bzw. wissen diejenigen, die auf Mitarbeitersuche sind, oft gar nicht wirklich, wen sie eigentlich suchen. Im Idealfall, das ist klar, die Eier legende Wollmilchsau. Nur die gibt’s eben nicht. Weswegen wir unter der Krankheit “Fachkräftemangel” leiden, wogegen es übrigens keinen Impfstoff gibt, aber sehr wohl ein Gegenmittel: Strategisch aufgestelltes an den Bedürfnissen und Erwartungen der Zielgruppe ausgerichtetes und mit ausreichend Budget ausgestattetes Recruiting. Siehe auch Cost of Vacancy. Und natürlich ein Anforderungsprofil, welches wirklich auf die Ziele der Aufgaben zugeschnitten ist und Potenziale und Stärken des Kandidaten berücksichtigt.

Auch meine in Kooperation mit Softgarden durchgeführte Studie unter über 1.400 Jobsuchenden bestätigt: Überzogene und unspezifische Anforderungen sind Grund für ausbleibende Bewerbungen.

Woher kommt die dubiose Aussage?

Wir kommen zum Thema Anforderungsprofile noch mal weiter unten zurück und wenden uns der Ursprungsfrage hin: Woher kommt eigentlich die in vielen Medien seit vielen Jahren falsch kolportierte Aussage (ja, jetzt ist die Katze aus dem Sack. Die Aussage ist nämlich nicht korrekt. Aber ich will noch nicht zu viel verraten). Zitiert hat sie Sheryl Sandberg, ihres Zeichens COO des launigen Datensammlers Facebook. In ihrem 2013 veröffentlichten Bestseller “Lean In: Women, Work, and the Will to Lead” (Titel der deutschen Ausgabe “Lean In: Frauen und der Wille zum Erfolg”) – der eine Bewegung eines neuen “self-empowerment” Feminismus auslöste – schreibt sie:

“An internal report at Hewlett-Packard revealed that women only apply for open jobs if they think they meet 100 percent of the criteria listed. Men apply if they think they meet 60 percent of the requirements. This difference has a huge ripple effect. Women need to shift from thinking ‘I’m not ready to do that’ to thinking ‘I want to do that– and I’ll learn by doing it.”

“Ein interner Bericht bei Hewlett-Packard ergab, dass sich Frauen nur dann auf offene Stellen bewerben, wenn sie glauben, dass sie 100 Prozent der aufgeführten Kriterien erfüllen. Männer bewerben sich, wenn sie denken, dass sie 60 Prozent der Anforderungen erfüllen. Dieser Unterschied hat eine enorme Auswirkung. Frauen müssen von dem Gedanken ‘Ich bin nicht bereit, das zu tun’ zu dem Gedanken ‘Ich will das tun – und ich werde lernen, indem ich es tue’ übergehen.”

Der Zusatz “This difference…” wird übrigens seltenst zitiert. Vielmehr geistert diese 100 Prozent-Aussage durch die HR-Szene. Und das seit 2013, seitdem die gute alte Sheryl ihr Buch veröffentlichte. So heißt es etwa in The Atlantic, dass Hewlett-Packard herausfinden wollte, wie man mehr Frauen in Führungspositionen bringen könnte. Eine Überprüfung der Personalakten, so heißt es weiter, ergab, dass sich Frauen bei HP nur dann um eine Beförderung bewarben, wenn sie der Meinung waren, dass sie 100 Prozent der für die Stelle aufgeführten Qualifikationen erfüllten. Männer bewarben sich gerne, wenn sie glaubten, 60 Prozent der Stellenanforderungen erfüllen zu können. “Die Autorinnen weiter: Bei HP und in einer Studie nach der anderen bestätigen die Daten, was wir instinktiv wissen. Unterqualifizierte und unzureichend vorbereitete Männer denken nicht zweimal darüber nach, sich zu bewerben. Überqualifizierte und übervorbereitete Frauen zögern noch immer zu oft. Frauen fühlen sich nur dann selbstbewusst, wenn sie perfekt sind. Oder praktisch perfekt.

Aussage wird weltweit in den Medien verbreitet, ohne die Quelle zu hinterfragen

Eine Überprüfung der Personalakten klingt schon mal anders als interner HR-Bericht. Nichtsdestotrotz: Was hat es eigentlich mit diesem mysteriösen “internen HP-Bericht” auf sich, der seitdem global rauf und runter (auch in deutschen Medien) weiterverbreitet wird – ohne der Original-Aussage auf den Grund zu gehen? Und stimmt das überhaupt mit den Personalakten? Nicht wichtig, Hauptsache, man kann mit dem Zitat hausieren gehen. So bspw. hier:

“In einem internen Report hat Hewlett-Packard herausgefunden, dass männliche Mitarbeiter sich für eine Beförderung bewerben, wenn sie 60 Prozent der Anforderungen erfüllten, Frauen bewarben sich erst, wenn sie jeden einzelnen Punkt der Stelle mit ihren Qualifikationen matchen konnten – bei 100 Prozent.” Quelle

“Eine Studie hat ergeben, dass sich Frauen gewöhnlich nur für einen Job bewerben, wenn sie 100% der Anforderungen in der Jobbeschreibung erfüllen. Männer hingegen bewerben sich bereits, wenn sie 60% der Kriterien für den Job erfüllen.” Quelle

“Studien zeigen, dass sich Männer oft schon bewerben, wenn sie nur 40 Prozent der Muss-Anforderungen erfüllen. Frauen dagegen halten sich erst dann für eine geeignete Kandidatin, wenn sie nahezu allen Kriterien vollständig entsprechen.” Quelle

“Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Männer viel eher die Hand heben, wenn es um hohe Positionen geht, selbst wenn sie nur 60 Prozent der Anforderungen mitbringen. Frauen trauen sich schon nicht, die Hand zu heben, wenn sie 90 Prozent mitbringen.” Quelle

“So ist es wohl auch mit dem viel beschworenen Klischee, Frauen bemühten sich erst um eine Stelle, wenn sie die Kriterien 100-prozentig erfüllen – während Männer im Vollgefühl ihrer selbst mit Bewerbungsschreiben nur so um sich werfen.” Quelle

“Wahrscheinlich haben Sie schon einmal von der folgenden Statistik gehört: Männer bewerben sich auf eine Stelle, wenn sie nur 60 % der Qualifikationen erfüllen, aber Frauen bewerben sich nur, wenn sie 100 % der Qualifikationen erfüllen.” Quelle (übersetzt)

“Wie eine Untersuchung des Harvard Business Review herausfand, sehen Frauen nur dann eine Chance auf den Job, wenn sie alle  Punkte einer Stellenanzeige erfüllen. Deshalb sind sie bei der Auswahl der Stellen, um die sie sich bewerben, deutlich  wählerischer. Männer bewerben sich hingegen oft schon, wenn sie nur 60 % der geforderten Kriterien erfüllen. Frauen finden eher
Gründe, sich selbst auszusortieren und bewerben sich folglich seltener als Männer.” Quelle: LinkedIn Gender Insights Report Deutschland

Wie führte HP seine Untersuchungen durch? Was wurde gefragt? Welche Methoden wurden angewandt?

Wenn eine “Studie”, eine “Statistik” oder ein “Report” so oft zitiert wird, dann muss doch was dran sein. Nur, wo findet man diese ominöse Quelle? Wie kommt es zu einer solchen Aussage? Diese Frage hat sich bereits im April 2014 (!) (und damit weit bevor das Zitat breitgetreten wurde) Curt Rice gestellt. Curt ist Präsident der Oslo und Akershus Hochschule für angewandte Wissenschaften und Vorsitzender des norwegischen Ausschusses für Gleichstellung und Vielfalt in der Forschung. Er betreibt die Website curt-rice.com, auf der er sich den Themen Gleichstellung und Führung widmet. Und er begann das zu tun, was ich auch tat: Er recherchierte. Wie ich, so wollte auch er wissen, was für ein Bericht, was für eine “interne Studie” hinter der “100 %-Aussage” steckt.

“I wanted to know more about the Hewlett-Packard results.
How did HP do their research?
What did they ask?
Why did they pose the question in the first place?
So, I kept looking.
Where were the methods and numbers?
We can’t be satisfied to simply quote someone who tells about their “internal research”.”

Das waren die Fragen, die er sich zu Recht stellte und die mich auch aufgrund einer weiteren Stellenanzeigen-Studie umtrieben.

 

Grundlage des Mythos, dass Frauen sich nur bewerben, wenn sie zu 100 Prozent den Anforderungen entsprechen - Quelle curt-rice.com

Wie eine einzelne Interview-Antwort zu einem immer wieder zitierten “Fakt” wurde

Sandberg zitiert in ihrem Buch den 2008 im McKinsey Quarterly veröffentlichten Artikel “A business case for women” von Georges Desvaux, Sandrine Devillard-Hoellinger und Mary C. Meany. Und so fragte er da nach, wo man eigentlich die Quelle der Aussage kennen müsste: bei den Autoren des Artikels. Von Georges Desvaux erhielt er dann die Antwort, dass der Bericht aus Interviews mit leitenden Angestellten stammt, die McKinsey mit vielen Unternehmen, darunter auch HP, geführt hat. Es gebe leider weder einen Zugang zu dem internen HP-Dokument noch zu dem tatsächlichen Kontakt, da es sich um eine Reihe vertraulicher Interviews handelte. Eine Reihe vertraulicher Interviews, welches gemäß Curt Rice möglicherweise so ausgesehen haben könnte:

“McKinsey-Interviewer: Haben Sie besondere Herausforderungen im Zusammenhang mit der internen Rekrutierung von Mitarbeitern für höhere Positionen?

Ein leitender Angestellter von Hewlett-Packard: Nun, es ist in der Tat viel schwieriger, Frauen dazu zu bringen, sich für höhere Positionen zu bewerben als Männer. Es scheint, dass es ihnen an Selbstvertrauen mangelt. Sie denken nicht einmal daran, sich zu bewerben, wenn sie nicht zu 100 % davon überzeugt sind, dass sie qualifiziert sind. Wenn Männer das Gefühl haben, dass sie auch nur zu 60 % passen, bewerben sie sich.”

Also alles nur eine Äußerung, die eine einzelne Führungskraft im Rahmen eines Interviews bei Hewlett-Packard von sich gegeben hat. Und dabei ging es auch nur um Führungskräfte. Dass nun also eine Pauschalaussage getroffen wird, dass (alle) Frauen sich nicht bewerben, wenn sie nicht zu 100 Prozent passen, finde ich schon sehr fragwürdig. Und so kann ich mich Curt Rice nur anschließen, wenn er sagt

“Sheryl Sandberg and the rest of us should stop repeating this number. We do not know if it is true. We can’t.”

und an alle da draußen appellieren, “Studien” und andere Behauptungen kritisch zu hinterfragen, Meinungen Einzelner (meine eingeschlossen) nicht zwingend für bare Münze zu nehmen, diese nicht zu verallgemeinern und vor allem: die Zielgruppe ins Visier zu nehmen. Und die ist nun mal, so leid es mir tut, alles andere als homogen. Selbst unter Frauen nicht (Stichwort Alter, Bildung, Branche, Beruf, Lebenssitution etc. pp.).

Nun vielleicht lässt sich das Verhalten der Menschen, die diese Behauptung unreflektiert wieder- und wiederholten, so erklären:

“Die Menschen bestätigen sich in einer sich selbst erneuernden Schleife fortwährend die Überzeugungen der jeweils anderen. Jede Runde gegenseitiger Bestätigung lässt das Sinngeflecht noch engmaschiger werden, bis man kaum noch eine andere Wahl hat als das zu glauben, was jeder glaubt.” Yuval Noah Harari, Homo Deus

Sind Frauen wirklich kritischer bei den Anforderungen als Männer?

Kommen wir zurück zum Anforderungsprofil. Denn dies ist ohne Wenn und Aber neben der Aufgabenbeschreibung das wichtigste Element einer Stellenanzeige und entscheidet darüber, ob man sich bewirbt oder nicht. Eine weitere Studie bekräftigt gerne die o. g. und wie wir nun  wissen falsch interpretierte aus dem Kontext gerissene Aussage. 2014 führte die Stellenbörse Jobware unter 230 Menschen, die sich in der Bewerbungsphase befanden, sogenannte Eyetracking-Studien durch. Welchen Anteil Männer und welchen Anteil Frauen in dieser Stichprobe hatten, ist leider nicht bekannt.

Frauen setzen sich länger mit einer Stellenanzeige auseinander als Männer

Als Ergebnis dieser Studien kam unter anderem heraus, dass sich Frauen deutlich länger als Männer mit den Inhalten einer Stellenanzeige auseinandersetzen, als die sich selbst überschätzenden Männer. Insbesondere aber Elemente, die einen Hinweis auf  Anforderungen, Arbeitszeiten und Qualifikationsmöglichkeiten geben. Im Durchschnitt, so die Erkenntnisse, betrachteten Frauen 2,34 Sekunden lang die Aufgabenbeschreibungen. Männer fühlten sich unabhängig von den Anforderungen angesprochen. Sie schauten schon nach 1,17 Sekunden weg. Heißt das, dass Männer gar nicht auf die Anforderungen schauen? So ließen sich diese Ergebnisse zumindest interpretieren. Womit wir wieder bei der o. g. Aussage wären:

“Unterqualifizierte und unzureichend vorbereitete Männer denken nicht zweimal darüber nach, sich zu bewerben.”

Ist das Ganze also nun ein Beleg für die Erkenntnis, dass Frauen sich weniger bewerben? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. So oder so, auch diese Ergebnisse werden wenig kritisch hinterfragt und finden als Belege bis heute Einzug in Veröffentlichungen.

Einen nennenswerten Unterschied zwischen Frauen und Männern, ob man sich bewirbt oder nicht, gibt es nicht

Auch eine ganz aktuelle Studie der Königsteiner bestätigt dies. Dort fragte man aber noch genauer nach und wollte wissen, ob das durch das o. g. Zitat bedingte Klischee stimmt, dass Frauen genauer auf die Erfüllung möglichst aller im Anforderungsprofil genannten Kriterien schauen als es die Herren der Schöpfung tun. Und siehe da: Den Ergebnissen der Studie zufolge ist das nur in geringem Ausmaß gegeben. Die meisten Frauen bewerben sich – so wie die Männer auch – dann, wenn sie mindestens drei (Frauen und Männer: 42 Prozent) oder vier Kriterien (Frauen: 43 Prozent, Männer 44 Prozent) erfüllen, wenngleich auch der Anteil der Frauen, die sich erst dann bewerben, wenn sie alle Kriterien erfüllen, mit 11 Prozent fast doppelt so hoch ist wie bei Männern (6 Prozent).

Bewerben sich wirklich weniger Frauen, wenn die Anforderungskriterien nicht zu 100% erfüllt werden?

Für die Studie wurden im April bundesweit 1.059 Arbeitnehmer aller Altersstufen befragt, jeweils zur Hälfte Akademiker und Nichtakademiker, wovon sich zum Zeitpunkt der Studie in den letzten 12 Monaten in einem Bewerbungsprozess befunden haben.

>>Kennwort: Trottellumme<<

Anforderungsprofile sind das Problem, nicht das Geschlecht

Fakt ist also: Anforderungsprofile sind generell an der Zielgruppe vorbei verfasst – egal welchen Geschlechts. Fakt ist auch, dass es Frauen ohne Frage in vielen Bereichen nach wie vor schwerer haben und sich auf Stellen bewerben, die unter ihren Qualifikationen liegen oder eben auch gar nicht erst, weil sie den Anforderungen nicht entsprechen. Möglicherweise liegt Frauen dieses kritischere Selektieren oder auch weniger selbstsichere Vorgehen in den Genen. Ich weiß es nicht. Noch nicht. Was ich weiß sind in diesem Kontext vor allem zwei Dinge:

  1. Ich beobachte seit meiner Diplomarbeit im Jahr 2004 sehr genau, wie Arbeitgeber Chancen nutzen, sich auch für Frauen attraktiv darzustellen. Fakt ist, dass da auch heute noch verdammt viel Luft nach oben ist und viele Potenziale nicht genutzt werden.
  2. Die Tatsache, dass das Zitat, Frauen würden sich nicht bewerben, wenn sie nicht zu 100 Prozent den Anforderungen entsprechen, keinerlei Evidenz hat.

Und genau darum ging es mir in diesem Artikel. Ihnen diesbezüglich die Augen zu öffnen. Letztendlich glauben die Menschen allerdings immer das, was sie glauben wollen.

Eine gute Nachricht zum Schluss: Wenn sich Frauen um einen Job bewerben, werden sie gemäß der oben zitierten LinkedIn-Studie häufiger eingestellt als Männer. Na bitte! In diesem Sinne: Happy Recruiting!

Kommentare (4)

personalmarketing2null

Liebe Susanne, bitte den Text *aufmerksam* lesen ;-) Dann sollte alles klar werden. Es handelt sich um keine These, sondern um ein Fakt, dass nur ein einzelner Interviewter seine persönliche Meinung in dem Interview zum Besten gab. Noch einmal: es gibt keine entsprechende Studie. Dieses lässt sich den Recherchen von Curt Rice explizit entnehmen. Einen schönen Abend!

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[…] als Männer. Und sich gemäß einer vermeintlichen HP-Studie, die gerne falsch zitiert wird (genau genommen sogar gar nicht existiert) eben in den meisten Fällen nur dann bewerben, wenn sie der Meinung sind, dass die Stelle zu 100 […]

Susanne

Wo genau habe ich überlesen, dass tatsächlich nur eine Person bei HP interviewt wurde? Hier wurde doch nur eine These aufgestellt, weil man gar nicht weiß, wie die Ergebnisse zustande kamen. Hier aber Gedankenspiele als Gegenargument aufzuführen, macht einen verzweifelten Eindruck.

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Moin! Ich bin Henner Knabenreich. Seit 2010 schreibe ich hier über Personalmarketing, Recruiting und Employer Branding. Stets mit einem Augenzwinkern oder den Finger in die Wunde legend. Auf die Recruiting- und Bewerberwelt nehme ich auch als Autor, als Personalmarketing-Coach, als Initiator von Events wie der HR-NIGHT oder als Speaker maßgeblich Einfluss auf die HR-Welt. Sie möchten mich für einen erfrischenden Vortrag buchen, haben Interesse an einem Karriere-Website-Coaching, suchen einen Partner oder Berater für die Umsetzung Ihrer Karriere-Website oder wollen mit bewerberzentrierten Stellenanzeigen punkten? Ob per E-Mail, XING oder LinkedIn - sprechen Sie mich an, ich freue mich auf Sie!
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