“Mist gebaut” – FOCUS gibt TOP-Arbeitgeber-Siegel auf

Lesezeit: 8 Min. Employer BrandingPersonalmarketingRecruiting

Tut uns leid. Wir haben echt Mist gebaut.”, so steht es in großen Lettern in Anzeigen, die das Medien-Unternehmen Burda (FOCUS) im Rahmen einer Kampagne in seinen Magazinen und Social-Media-Kanälen veröffentlicht. Darin räumt der Anbieter eines der unter HR-Experten umstrittensten Arbeitgeber-Siegel in Deutschland (FOCUS Top-Arbeitgeber) seine Mitschuld an der Recruiting-Misere in Deutschland ein. “Wir haben erkannt, dass wir mit der Augenwischerei unseres Arbeitgeber-Siegels den Unternehmen einen Bärendienst erweisen und sie um die Chance bringen, wirklich in ein nachhaltiges, wirkungsvolles Recruiting zu investieren.“, heißt es in einer zu dieser Image-Kampagne veröffentlichten Pressemitteilung. Auch bei Bewerbern wolle man sich entschuldigen.

“FOCUS Top-Arbeitgeber” als Ablassbrief fürs Employer Branding

Bereits seit 2012 vergibt das Magazin Focus-Business in Zusammenarbeit mit XING und kununu (die nun “Bäumchen wechsel dich” spielen und (ausgerechnet) mit der ZEIT einen neuen Partner unseriöser Arbeitgeber-Auszeichnungen gefunden haben) die “Auszeichnung” Top-Arbeitgeber Deutschland. Über 1.000 solcher “Top-Arbeitgeber” gibt es demnach jedes Jahr in Deutschland. Im Mittelstand sind es sogar noch mehr. Seitdem hat sich das Geschäft der käuflichen Liebe Arbeitgeber-Siegel zu einer echten Cashcow des Burda-Imperiums entwickelt. Immer mehr Unternehmen in Deutschland nutzen das niedrigschwellige Angebot, sich als “attraktiver” bzw. “TOP”-Arbeitgeber zu präsentieren und sich selbstbeweihräuchernd dafür zu feiern – obwohl sie es in vielen Fällen nachweislich nicht sind bzw. nicht nachzuvollziehen ist, warum ausgerechnet sie es sein sollten, die mit dem Siegel werben dürfen.

Käufliche Liebe mit nicht repräsentativen Ergebnissen

FOCUS selbst schreibt auf den großzügig verteilten Zertifikaten, dass die Ergebnisse nicht repräsentativ seien.

FOCUS Arbeitgebersiegel auch im Mittelstand keine repräsentativen Ergebnisse

Mit einer Jahreslizenz von zuletzt 12.500 Euro erkauften sich Unternehmen, die nicht bereit sind, in nachhaltiges Recruiting und nachhaltige Führungskräfteentwicklung – und damit Mitarbeiterbindung – zu investieren, einen Ablassbrief fürs Employer Branding, der potenzielle Mitarbeiter in die Irre führt. Oder sie kaufen sich das Siegel, um ihrem Ego zu schmeicheln respektive selbiges zu streicheln und dieses sogar auf Plattformen wie LinkedIn als “neu gewonnenen Award” zu feiern. Von gewonnen kann hier kaum die Rede sein. Denn auf das Ergebnis haben Arbeitgeber keinerlei Einfluss. Wer hier ausgezeichnet wird, liegt einzig und allein im Gutdünken des FOCUS-Teams bzw. des mit diesem eng verbandelten “Marktforschung”-Instituts.

Wer feiern will, muss zahlen

Wer das FOCUS Top-Arbeitgeber-Siegel also feiert, hat zunächst einmal tief in die Tasche gegriffen. Denn extern darf mit der Auszeichnung nur geworben werden, wenn man zuvor auch die Lizenz zum Feiern erworben hat (eine werbliche Nutzung der Urkunde ist nämlich nur dann gestattet). Insofern handelt es sich bei diesen Siegeln um eine Form der käuflichen Liebe – nur eben im Recruiting. Schließlich erntet man dank dieser “Trophäen” viel Liebe und Zuneigung unter den Kolleginnen und Kollegen. Oder Vorgesetzten. Und die der Siegelverkäufer. Allerdings nicht die der Bewerber. Denn die sind von solchen Siegeln, insbesondere aber von so intransparenten, wenig überzeugt (siehe dazu auch den unten verlinkten Bericht im Personalmagazin).

Streng genommen handelt es sich bei dem FOCUS Arbeitgeber-Siegel oder auch bei “Leading Employers”, um einen weiteren dieser obskuren Siegel-Anbieter zu nennen, um irreführende Werbung, wird hier doch mit vermeintlichen Fakten geworben, die so nicht nachvollziehbar sind.

Tut uns leid - Motiv der Kampagne, mit dem sich FOCUS für sein TOP-Arbeitgeber-Siegel entschuldigt

Erkaufte Arbeitgeber-Attraktivität

Obwohl FOCUS in seiner Urkunde schon von Anfang an darauf hinwies, dass die Ergebnisse weder vollständig noch repräsentativ seien, erfreut sich das Siegel großer Beliebtheit bei Unternehmen. Vorteil des Siegels: Vom “Fachkräftemangel” gebeutelte Unternehmen müssen nicht selbst mühselig Maßnahmen in die Wege leiten, um als attraktiver Arbeitgeber zu gelten, man kann sich den Deckmantel der Attraktivität in Form einer Lizenz für jeweils ein Jahr mit einem Mausklick erkaufen. “Wir sind selber überrascht von dem Ausmaß an Bewerber-Irreführung“, heißt es bei FOCUS. “Uns war es nicht bewusst, welch negative Auswirkungen unser Arbeitgeber-Siegel auf das Recruiting und die Reputation von Arbeitgebern haben würde. Uns war auch nicht bewusst, dass sich Unternehmen für diese Auszeichnung so derbe feiern würden – obwohl sie rein gar nichts dafür geleistet haben. Das alles gibt uns zu denken“.

„FOCUS vergibt sein Siegel an Unternehmen aus der großen FOCUS-Arbeitgeberliste. […] Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ.“

Bewerber-Irreführung kostet Volkswirtschaft Milliarden

Tatsächlich sind die finanziellen Folgen der Bewerber-Irreführung kaum absehbar. Aber nicht nur die Irreführung potenzieller Bewerber ist ein Problem. Auch dass Unternehmen Millonen von Euro verbraten – die in wirkungsvollen und nachhaltigen Recruiting-Maßnahmen deutlich sinnvoller und gewinnbringender angelegt wären – ist kritisch zu betrachten. So wird eine kaum abzuschätzende Anzahl an Menschen kündigen oder – was fast schlimmer ist – in Lethargie verfallen und innerlich kündigen. Und das nur, weil sie auf die Strahlkraft von TOP Arbeitgeber-Siegel (oder anderer) vertrauten und mehr oder weniger schnell realisierten, dass der vermeintlich “ausgezeichnete” Arbeitgeber alles andere als das ist – etwa aufgrund unterirdischer Arbeitsbedingungen oder toxischer Führungskräfte. Die Folgen einer solchen inneren Kündigung für unsere Volkswirtschaft belaufen sich Berechnungen zufolge auf jährlich bis zu 122 Milliarden Euro.

Negative Erfahrungen mit “Top-Arbeitgebern” erschweren Recruiting-Bemühungen

Aber nicht nur die (innere) Kündigung stellt ein Problem dar. Denn in der Folge der negativen Erfahrungen verleihen solch ihrer Illusion beraubten (und getäuschte) Menschen Ihrem Unmut bspw. Ausdruck, in dem sie genau auf dem Portal entsprechende Arbeitgeberbewertungen hinterlassen, das die wenig repräsentative Datenbasis in der Vergangenheit zur Verfügung gestellt hat: auf kununu (Notiz am Rande: Mittlerweile setzt man bei FOCUS für die Arbeitgeberbewertungen auf ein eigenes, und damit alles andere als “unabhängigem” Marktforschungsinstitut: Factfield. Denn praktischerweise ist der Geschäftsführer in Personalunion auch Herausgeber des Siegels. Ein Schelm, der Böses dabei denkt). Natürlich finden solch negative Erfahrungen ihren Weg neben kununu auch über Mundpropaganda zu anderen Menschen. Beides mit massiven Folgen für die Personalgewinnungs-“Bemühungen” der Unternehmen: Das Recruiting wird durch solche den Arbeitgeberruf schädigende Maßnahmen massiv erschwert, die Arbeitgebermarke erhält einen nachhaltigen Reputations-Verlust. Auch hier entstehen, das sei nur am Rande erwähnt, für die Unternehmen kaum bezifferbare Beträge.

FOCUS entschuldigt sich für sein TOP-Arbeitgeber-Siegel - Kampagnen-Motiv

Versuch einer Entschuldigung bei betroffenen Arbeitgebern – und Bewerbern

Dass die Erkenntnisse, die dem FOCUS-Business-Team offenbar wie Schuppen aus den Haaren fielen, nun ausgerechnet kurz vorm 10. Jubiläum des Siegels zu einem Umdenken geführt haben, überrascht. “Für uns war der Schritt klar. Bevor wir ins 10. Jahr gehen, bevor wir ein zehntes Mal Menschen in ihr Unglück stolpern lassen und Unternehmen einen Freibrief für ihre mangelnden Recruiting-Bemühungen ausstellen, bevor wir der Volkswirtschaft weiteren Schaden zufügen, werden, ja müssen wir, die Reißleine ziehen. Als meinungsführendes Organ in Deutschland hat der FOCUS ein hohes Maß an gesellschaftlicher Verantwortung zu übernehmen. Dieser stellen wir uns gerne.“, heißt es zu den Beweggründen auf der eigens für die Kampagne aufgelegten Microsite.

Führten Betroffene in den eigenen Reihen zum Aus des FOCUS TOP-Arbeitgeber-Siegels?

Einem Insider zufolge ist es aber wohl eher dem Schicksal einer dem FOCUS-Business-Team nahestehenden Person zu verdanken, das zum Aus für das TOP Arbeitgeber-Siegel führt. Demzufolge hatte sich diese nämlich bei einem mit als “TOP-Arbeitgeber” ausgezeichneten Unternehmen beworben und erlebte dann im Rahmen ihrer Anstellung, die sie nach wenigen Monaten quittierte, schon früh einen alles andere als “TOP-Arbeitgeber”. Pech für diese Person, Pech für den betroffenen Arbeitgeber. Aber Glück für eine Vielzahl von Bewerbern – und für Arbeitgeber, von denen sich die, die über einen gesunden Menschenverstand verfügen, durch das FOCUS-Siegel um ihre Reputation gebracht fühlen und gegen den alljährlich wieder aufkeimenden Vertriebs-Spam ankämpfen.

“Seit vielen Jahren betreiben wir mit unserem TOP-Arbeitgeber-Siegel Schönfärberei. Dafür möchten wir uns aufrichtig entschuldigen. Bei Arbeitgebern. Und Bewerbern.”

Kampagne auch in einschlägiger Personaler-Postille

Die augenzwinkernden Motive bzw. Sprüche der Kampagne, die neben Burda-eigenen Formaten auch in Personaler-Postillen, wie dem Human Resources Manager, dem Personalmagazin oder der Personalwirtschaft erscheinen, sind daher der Versuch einer Entschuldigung bei betroffenen Arbeitgebern – und Bewerbern. “Tut uns leid.”, heißt es dort. Oder einfach nur “Sorry.” Ob das ausreichen wird, den durch Arbeitgeber-Siegel verursachten Image-Schaden wiedergutzumachen?

Unternehmen und Bewerber erhalten Entschädigung

Offenbar hat man bei Burda selber große Zweifel daran. Daher dürfen Unternehmen, die von FOCUS als “TOP-Arbeitgeber” ausgezeichnet wurden, im Rahmen einer Übergangsphase nur noch bis zum 15. Juni 2022 mit dem Arbeitgebersiegel werben. Bereits gezahlte Lizenzgebühren werden anteilig erstattet. Unternehmen werden in Form von E-Mails und Rundschreiben aufgefordert, aus Gründen der Transparenz und Fairness nicht mehr mit dem Siegel zu werben oder sich für offensichtliche Nicht-Leistung zu feiern. Und Bewerber, bzw. Menschen, die sich aufgrund des Siegels bei Unternehmen beworben haben und mit einer ganz anderen Wirklichkeit konfrontiert wurden? Die erhalten eine finanzielle Entschädigung sowie ein lebenslanges Abo einer der beliebtesten Titel aus dem Burda-Angebot.

Back to the roots: FOCUS widmet sich fortan dem Qualitätsjournalismus

Bei FOCUS will man sich, so die Pressemitteilung weiter, auf seine Wurzeln besinnen und in die journalistische Qualität seiner Angebote investieren. “Die journalistische Qualität unserer Beiträge hat viel Luft nach oben. Wir wollen uns von unserem “Bild-Image” lösen und uns auf guten, investigativen Journalismus konzentrieren“, heißt es am Schluss der Pressemitteilung. Bleibt zu hoffen, dass sich der Rest der überwiegend als wenig seriös einzustufenden Arbeitgeber-Siegel-Industrie (etwa “Leading Employers” oder “Deutschlands begehrteste Arbeitgeber“, deren Arbeitgeber-Siegel der Bewerber-Verhöhnung die Krone aufsetzen) dem FOCUS-Vorstoß anschließt. Für mich heißt es an dieser Stelle ganz klar: Kudos, FOCUS!

Hier die Pressemitteilung im Originalwortlaut.

Mehr zum Thema Arbeitgeber-Siegel gibt es ab S. 18 im Special des Personalmagazins.

Kommentare (5)

Schluss mit dem Zwangs-Login im Recruiting!

[…] mit einem Top-Job, Top-Argumenten (warum sich unbedingt hier und nirgends anders bewerben), und Top-Arbeitgebersiegel (okay, das war jetzt ein Scherz) zu überzeugen – und dann verschreckt man einen potenziellen […]

Pip

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Ute

Ein super April Scherz - klasse geschrieben - vielen Dank dafür!

Karl-Heinrich Bruckschen

April, April - einfach toll gemacht und super unterhaltsam! Vielleicht ja mal eine gute Anregung für die Focus Redaktion!

Chris

Einer der besten April Scherze, die ich je erlebt habe. Super gemacht :-)
Über den Autor
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Moin! Ich bin Henner Knabenreich. Als Recruiting-Aktivist und Arbeitgebermarkenauftrittsoptimierer helfe ich Unternehmen, mit einer wertschätzenden und menschenzentrierten Ansprache passende Mitarbeiter zu finden. Mein Fokus: Karriereseiten, Stellenanzeigen und eine Bewerbungsarchitektur, die aus Interessenten Bewerber macht. Mein Wissen teile ich auch als Speaker, Personalmarketing-Coach, Berater und als Fachbuchautor der weltweit ersten Bücher über Karriereseiten und Google for Jobs. Ich hinterfrage den Status quo, lege gern den Finger in die Wunde und sage, was ich denke – und nicht, was alle hören wollen. Sie möchten mich für einen erfrischenden Vortrag buchen, eine wirklich funktionierende Karriereseite aufbauen, suchen einen Sparringspartner für Employer Branding oder wollen mit bewerberzentrierten Stellenanzeigen punkten? Dann kontaktieren Sie mich gern per E-Mail oder LinkedIn – ich freue mich auf Sie!
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