20. März 2017
Stellenanzeige oder Anschreiben: Was stirbt zuerst?
Lesezeit: 10 Min. HRRecruitingStellenanzeigen
Was stirbt eigentlich zuerst? Die Stellenanzeige oder das Anschreiben? Dies war der Titel meiner gemeinsam mit Frechmut-Co-Autor Florian Schrodt präsentierten Session beim sechsten HR Barcamp in Berlin. Schon seit einiger Zeit treibt mich der Gedanke um, welche Daseinsberechtigung das Anschreiben heute eigentlich noch hat. Und welche die Stellenanzeige. Zumindest in der bestehenden Form. Grund genug, sich einmal mit der Thematik auseinanderzusetzen.
Unserem Sessionvorschlag waren einige andere Titelentwürfe vorangegangen: “Müssen wir die Stellenanzeige töten, um eine lebendige HR-Kommunikation zu schaffen? Eine Kundenbrille gegen HR-Blindheit” oder auch “Im eHRnst: Würden Sie das kaufen? Stop Employer Blending!“. Letztendlich wurde es der oben genannte. Ganz klar war die Antwort auf die Frage, was denn zuerst den Weg allen Fleisches gehen würde: Die Stellenanzeige oder das Anschreiben? Nahezu alle stimmten für das Anschreiben.
Was stirbt zuerst? #Stellenanzeige oder #Anschreiben? Votum eindeutig: Anschreiben. Von hinten aus dem Saal kommt: “Quatsch!” #hrbc17
— Joachim Diercks (@recrutainment) 16. März 2017
Austauschbare Stellenanzeigen führen zu austauschbaren Anschreiben
Aber mal ganz ehrlich – wir sind hier unter uns – welchen Stellenwert hat denn überhaupt das Anschreiben für die Bewerberauswahl? Was bringt uns das? Was sagt uns das Anschreiben über den Bewerber? Vor allem vor dem Hintergrund, dass diese Anschreiben eine Reaktion auf veröffentlichte Stellenanzeigen sind. Deren Qualität wiederum in den meisten vielen Fällen zu wünschen übrig lässt.
Denn es ist doch so: Da beschweren sich Personaler über austauschbare Anschreiben ohne jegliche Aussagekraft, aber auf der anderen Seite sind die Stellenanzeigen selber austauschbar wie die Kandidaten irgendwelcher Casting Shows. Da beschweren sich Personaler über ungeeignete Kandidaten, dabei sind die nur eine Reaktion und die logische Konsequenz auf inhaltsleere, vor austauschbaren Floskeln triefenden Stellenanzeigen (zugegeben, bei so manchem Bewerber würde man sich schon wünschen, er könnte lesen ;)). Schließlich liest man in Bewerbungsratgebern ja immer wieder, dass man sich bitteschön auf die Stellenanzeige beziehen möge. Da jammern Personaler über den Fachkräftemangel, dabei ist das Problem dank austauschbarer (und nicht selten in den falschen Medien geschalteter) Stellenanzeigen in den meisten vielen Fällen selbst verursacht. Tatsächlich sagte mir neulich ein Personalverantwortlicher, der auf der Suche nach Ingenieuren in verschiedenen Bereichen ist, allen Ernstes, dass er seine Stellenanzeigen ausschließlich auf Monster schalte. Schließlich sei das gegenüber dem Wettbewerb günstiger. Schön, sagte ich. Nur was nützt es Ihnen, wenn die günstigen (und austauschbaren) Stellenanzeigen niemanden erreichen?
Leider ist oben geschildertes Szenario kein Einzelfall. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem richtigen Suchkanal findet genauso wenig statt, wie mit dem Erstellen der Stellenanzeige selbst. Das gilt übrigens auch für das Anschreiben: Da investieren Bewerber mitunter mehrere Stunden in ihre Bewerbung und auf der anderen Seite riskieren Personaler (je nach Studie) einen Blick zwischen ein paar Sekunden und fünf Minuten, um sich diesem Anschreiben zu widmen.
Welchen Stellenwert hat das Anschreiben für die Bewerberauswahl?
Abgesehen davon: Was sagt das Anschreiben über den Bewerber aus? Warum sollte ein Software-Entwickler, eine Erzieherin oder auch ein Controller ein Anschreiben vorlegen? Lässt sich irgendwas aus dem Anschreiben ziehen, was auf die fachliche Eignung oder schlimmer noch – das Persönlichkeitsprofil – schließen lässt? Ein Software-Entwickler sollte coden, eine Erzieherin soll erziehen und bestens mit Kindern und ein Controller sollte mit Zahlen jonglieren können. Über die fachliche Eignung und die notwendigen Qualifikationen gibt (im Idealfall) der Lebenslauf Auskunft. Oder das Profil auf LinkedIn oder XING. Oder wie wäre es mit einem persönlichen Gespräch? Da Bewerber oftmals nämlich nicht die geborenen Geschichtenerzähler oder Schreibtalente sind und auch gerne was vergessen wird zu erzählen (was mitunter auch an den ungenauen Anforderungen in den Stellenanzeigen liegen mag), sollte man nicht zögern auch mal den Hörer in die Hand zu nehmen – oder meinetwegen eine WhatsApp-Nachricht zu senden, und den oder die Bewerber(in) freundlich fragen. Gerade bei Hände ringend gesuchten Zielgruppen sollten wir die Hürde möglichst gering halten! Anschreiben sind eine solcher Hürden, die Ihnen den ein oder anderen Kandidaten durch die Lappen gehen lassen.
“Bei einer Engpassstelle kann man sich auf nem angeranzten Butterbrotpapier bewerben.” Da ist das Anschreiben schon tot… #HRBC17
— Joachim Diercks (@recrutainment) 16. März 2017
Und selbst bei Stellenprofilen, bei denen Schreibkenntnisse zum A & O gehören, ist das Anschreiben obsolet. Denn schließlich machen diese Damen und Herren ja nichts anderes, als zu schreiben und verfügen ergo über reichlich Arbeitsproben, derer Google wahrscheinlich genug hervorzaubern (respektive der Bewerber mitschicken) kann. Und wenn wir gerade bei den Schreibkenntnissen sind: Wer schreibt bei Ihnen die Stellenanzeigen? Sind Sie ein echtes Naturtalent und wissen, wie und mit welchen Argumenten Sie Ihre Bewerber überzeugen? Verstehen Sie es, die Aufgaben des künftigen Mitarbeiters nachvollziehbar und plastisch darzustellen oder ergötzen Sie sich an einer Auflistung seelenloser Substantive? Kennen Sie überhaupt die Aufgaben? Haben Sie mit den Kollegen aus der Fachabteilung gesprochen und sich über die Aufgabeninhalte abgestimmt oder liegt das Ganze seit Jahren als Stellenprofil in der Schublade, staubt vor sich hin und wird im Bedarfsfall rausgeholt und blind übernommen – ohne zu prüfen, ob die dort beschriebenen Aufgaben überhaupt noch zutreffen?
Machen Sie sich wirklich Gedanken über das Anforderungsprofil? Ist Ihnen wirklich klar, was Sie von Ihrem Bewerber erwarten? Tatsächlich las ich gerade in einer Stellenanzeige für einen Software-Architekten, er (oder sie) möge “umfangreiches technisches Fachwissen (aktuelle Technologietrends und Programmiersprachen)” mitbringen. Unspezifischer geht es wirklich nicht mehr, oder? Wie aber können Sie dann, als jemand, der sich selber nicht perfekt ausdrücken kann, von Ihren Bewerbern eine perfekte Bewerbung mit perfektem Anschreiben erwarten?
Beliebige Anforderungskriterien in beliebigen Stellenanzeigen
Laut einer Studie von Wirtschaftspsychologe Prof. Dr. Uwe P. Kanning legen nicht einmal die Hälfte der befragten Unternehmen verbindliche Anforderungen für eine Stelle fest. In der Regel gehen Anforderungsprofile noch auf beliebige Wunschlisten zurück, die entweder noch in der Schublade liegen (s. o.) oder von der Fachabteilung nach bestem Wissen und Gewissen zwischen Tür und Angel erstellt wurden. Ohne penetrantes Nachfragen der Recruiter natürlich. Und vor allem: Ohne auf die Konsistenz zwischen den Anforderungen selbst bzw. ohne auf die Konsistenz zwischen Aufgaben und Anforderungen zu achten. “Ein Generalist, der stets den Überblick behält, aber gleichzeitig immer alle Details im Auge hat“? Ein Humanmediziner, der über ein “unbedingtes Verständnis und vertiefende Kenntnisse im Gesundheits- und Krankenhausbereich, die persönliche Fähigkeit professionellste Businessprozesse aufzubauen und auszubauen, die persönliche Fähigkeit, internationale Mitarbeiter und Teams zu leiten und zu motivieren!, außergewöhnliche Social Media Kenntnisse und fortgeschrittene XING- / LinkedIn – Userkenntnisse, samt diverser Suchparameter!” verfügt? Egal, ob mit oder ohne Ausrufezeichen: Solche Personen existieren nicht.
Wirksamkeit der Selbstselektion von Bewerbern nicht nachgewiesen
Wobei wir über die Wirksamkeit der Selbstselektion von Bewerbern anhand von Aufgabenbeschreibungen und Anforderungsprofilen in Stellenanzeigen tatsächlich nicht wissen, wie und ob sie beim Bewerber überhaupt vorhanden ist. Während zwar Studien zum Aufbau und zur Gestaltung von Stellenanzeigen existieren, gibt es keine Untersuchung über die “eigentliche Intention von Stellenanzeigen, also eine bestmögliche und valide Basisrate der Bewerber durch eine realistische Selbsteinschätzung“, wie Dr. Manfred Böcker und Dr. Nils Benit in Ihrem Thesenpapier “Sechs Thesen zu Anforderungsprofilen in Stellenanzeigen” schreiben. Das Thesenpapier kann bei den Autoren per E-Mail bestellt werden.
In einer weiteren Studie von Professor Kanning lesen wir: 81 Prozent der Personaler möchten, dass Bewerber in ihrem Anschreiben deutlich machen, warum sie meinen, besonders gut auf die Stelle zu passen. 70 Prozent würden gerne etwas über die Stärken der Kandidaten lesen. Das liest sich auf den ersten Blick durchaus ehrenwert, dennoch ist die diagnostische Aussagekraft des Anschreibens eher zweifelhaft, wie es im Buch “Personalauswahl in der Wissenschaft: Evidenzbasierte Methoden und Impulse für die Praxis” heißt.
#Anschreiben sind doch nur am Rande Informations-, vor allem aber eine riesen Fehlerquelle in der #Personalauswahl!!! #Validität #hrbc17
— Stefan Reiser (@ReiserStefan) 16. März 2017
Demzufolge dürften Anschreiben “in hohem Maße im Sinne einer vorteilhaften Selbstdarstellung manipuliert sein.” Zu der Frage nach der Wirksamkeit der Selbstselektion gesellt sich also ein weiterer spannender Aspekt hinzu, nämlich das Problem der Selbstcharakterisierung.
Teamfähigkeit ist nicht gleich Teamfähigkeit
Wenn sich also ein Bewerber im Anschreiben als “teamfähig” bezeichnet, ist weder das Bezugssystem des Bewerbers bekannt (was bedeutet eine hohe Teamfähigkeit für ihn?), noch ist klar, inwieweit diese Aussage für die ausgeschriebene Stelle überhaupt relevant ist. Das wissen indes die Verfasser der Stellenanzeigen in vielen Fällen auch nicht, vielmehr vermitteln viele Inserate eher den Eindruck, man müsse noch irgendwelche sozialen Kompetenzen mit ins Profil aufnehmen. Da das wiederum die Fachabteilung auch nicht weiß, spickt man dann gerne bei den Stellenanzeigen der Wettbewerber, die es auch nicht besser wissen oder greift auf das bewährte Stellenanzeigen-Muster zurück, welches man vor x Jahren erstellt hat.
So sind also Selbstselektion und Selbstcharakterisierung nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite steht nämlich Kollege Recruiter, stehen Sie. Wie können nämlich Sie zum Beispiel die “Teamfähigkeit”, die “Flexibilität”, die “Begeisterungsfähigkeit”, das “Engagement”, die “Einsatzbereitschaft”, die “Kommunikationsfähigkeit” oder die „Konfliktfähigkeit“ (um mal einige der beliebtesten Sprechblasen in den Stellenanzeigen deutscher Arbeitgeber zu zitieren) anhand des Anschreibens prüfen? Und nachvollziehen, inwieweit sich die Vorstellungen des Bewerbers bezüglich der einzelnen Begriffe mit Ihren bzw. denen Ihres “on the fly” erstelltem Anforderungsprofils deckt? Und damit nicht genug. Denn nicht nur die Bewertung der weichen Faktoren ist stark interpretationsabhängig: Auch harte Faktoren, wie beispielsweise “verhandlungssicheres Englisch“ bieten viel Interpretationsspielraum. Sind 15 Punkte im Abitur-Leistungskurs Englisch ausreichend oder wird doch ein Cambridge-Zertifikat benötigt?
Kein aussagekräftiges Anschreiben ohne aussagekräftige Stellenanzeige
Aber zurück zu den Bewerbungsanschreiben. Wenn eben Stellenanzeigen so wenig aussagekräftig und austauschbar sind, können wir dann “aussagekräftige Bewerbungsunterlagen” erwarten? Können wir überzeugende Anschreiben erwarten, wenn wir nicht mit überzeugenden Stellenanzeigen aufwarten? Und wenn dem doch sowieso so ist, können wir dann nicht auf die Anschreiben verzichten? Erste Ansätze gibt es schon: So verzichten Telefonica und auch die OTTO Group seit einiger Zeit auf die Anschreiben. Und trotzdem: Für 71 Prozent der in der Studie Recruiting-Trends 2017 befragten Personaler ist das Anschreiben das wichtigste Element bei der Bewerbung. Für 42 Prozent bedeutet ein fehlendes Anschreiben das Aus in der Bewerbung. Deren Stellenanzeigen möchte ich mal sehen!
Studie hin oder her: Wie man es dreht und wendet, ein gewissenhafter und valider Rückschluss vom Anschreiben auf die Eignung des Bewerbers ist nach all den geschilderten Aspekten kaum möglich. Aber ist es wirklich klug, komplett auf das Anschreiben zu verzichten und es zu Grabe zu tragen?
Wenn was stirbt, ist es das Anschreiben
Eine abschließende und generalisierende Antwort gibt es wohl nicht. Grundsätzlich wäre es auf jeden Fall falsch und kontraproduktiv, dem Bewerber das Anschreiben “zu verbieten” – so wie es kontraproduktiv und grob fahrlässig ist, den Bewerbungseingang per Post zu verbieten. Wenn der Bewerber sich gerne mit einem individuellen Anschreiben präsentieren möchte, sollten wir ihm den Weg nicht verwehren. Es aber vehement einzufordern, halte ich für falsch. Kann man aus einem Bewerbungsanschreiben wirklich herauslesen, welcher Typ Bewerber meiner “Einladung” mittels Stellenanzeige gefolgt ist? Insbesondere, wenn die Stellenanzeige (wie oben beschrieben) wenig überzeugend ist?
Ist die Interpretation eines Bewerbungsanschreibens nicht sogar vergleichbar dem Kaffeesatzlesen oder dem eines Horoskops und steht es damit nicht auf einer Stufe wie ein graphologisches Gutachten oder gar der Auswertung einer Software, die anhand der analysierten Stimme des Bewerbers dessen Eignung vorhersagt? Bedeutet nicht ohnehin der Einsatz von Big Data und Matching-Algorithmen einen weiteren Nagel am Sarg des Anschreibens? Und noch etwas: Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, was das für eine Zeitersparnis bedeutet, sich nicht mehr dem Anschreiben zu widmen (für das Sie sich zwar ohnehin nicht viel Zeit nehmen, aber die Menge macht’s)?
Fragen über Fragen. Eins ist auf jeden Fall klar: Die Stellenanzeige wird so schnell nicht sterben. Ohne sie geht es einfach nicht, denn wie sollten Sie auf eine offene Vakanz hinweisen?
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