03. Dezember 2019
Warum TikTok im Azubimarketing und Recruiting tabu sein sollte
Lesezeit: 9 Min. AusbildungsmarketingPersonalmarketingSocial Media
Kennen Sie TikTok? Das ist der neueste Schrei unter den sinnfreien Selbstinszenierungs-Apps. Insbesondere die Jugend fährt darauf ab. Und weil die Kids drauf abfahren – aka: sich die jugendliche Zielgruppe potenzieller Ausbildungsmarketing-Aktivitäten dort tummelt – loten auch erste Unternehmen diese Plattform für sich aus. Wer hier nicht mitmacht, so die Denke, verpasst vielleicht etwas ganz Großes. Gerade wurde sogar Aldi Süd für sein innovatives Ausbildungsmarketing-Konzept auf TikTok ausgezeichnet. Dabei gibt es wahrlich gute Gründe, die gegen solch ein Engagement auf TikTok sprechen.
Ist das nicht toll? Aldi gewinnt mit seinem TikTok-Engagement den HR Excellence Award in der Kategorie „Konzerne Azubi-Marketing“. “Über 1 Millionen Impressions, 50.000 Views und 20.000 Likes in nur vier Tagen: Die TikTok-Kampagne, mit der ALDI SÜD im Sommer Schülerinnen und Schüler für eine Ausbildung begeisterte, war ein voller Erfolg“, so heißt es in der Pressemitteilung. Wie viele Bewerbungen unterm Strich dabei rumkamen, dazu schweigt man sich leider aus. Aldi Süd ist aber kein Einzelfall. Auch das Klinikum Dortmund oder die Bundeswehr* nutzen das chinesische Spaß-Netzwerk, um potenzielle Bewerber auf sich aufmerksam zu machen. Okay, “chinesisch” und “Spaß”, das passt irgendwie nicht ganz zusammen. Das fand auch Demokrat Chuck Shumer, der vor der Nutzung von TikTok im Recruiting eindringlich warnte. Er verstehe zwar, dass die Armee neue Wege im Recruiting gehen müsse, um junge Amerikaner für den Dienst an der Waffe zu gewinnen, warnte aber vor den potenziellen nationalen Sicherheitsrisiken von chinesischen Technologieunternehmen”. Alles Hysterie oder was?
Was ist TikTok?
Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir zunächst einmal die nach dem “was ist eigentlich TikTok?” beantworten. Nach Facebook, Instagram und Snapchat ist TikTok DIE Selbstinszenierungs-App Nr. 1. Laut eigenen Angaben handelt es sich dabei um “eine globale Video Community, die es ganz einfach für einen macht, kurze und unterhaltsame Videos zu entdecken oder zu erstellen“. Mit Spezialeffekten, Filtern und Stickern können die Clips noch weiter bearbeitet werden
TikTok ist “mobile only”. Es gibt zwar eine Desktop-Version, die bietet aber nur eingeschränkte Funktionen. TikTok gehört zum chinesischen Unternehmen ByteDance, einem der am höchsten bewerteten Start-Ups der Welt. ByteDance hatte 2017 die App Musically übernommen und im Sommer 2018 mit TikTok verschmolzen. Eigentlich heißt die App Douyin – nur in der westlichen Welt ist sie als TikTok bekannt. TikTok finanziert sich bislang über das Geld des Mutterkonzerns ByteDance.
Wer nutzt TikTok?
Aktuellen Schätzungen von Sensor Tower zufolge (Sensor Tower ist nach eigenen Angaben der führende Anbieter von Marktinformationen und Erkenntnissen für die globale App-Economy) hat die App jüngst die Marke von 1,5 Milliarden Downloads geknackt. Damit ist TikTok derzeit die am dritthäufigsten heruntergeladene Non-Gaming-App – hinter WhatsApp mit 707,4 Millionen Downloads und dem Messenger mit 635,2 Millionen Downloads. Laut Angaben von ByteDance wurde die Spaß-Applikation bisher in 150 Ländern und in 75 Sprachen heruntergeladen. Darunter natürlich auch Deutschland. 4 Millionen User zählt die App hierzulande. Laut einer Umfrage nutzen 14,3 Prozent der Schüler TikTok. 1,1 Prozent davon auch zur Karriereplanung.
TikTok-Nutzer sind überwiegend jung. 69 Prozent von ihnen sind zwischen 16 und 24 Jahre alt. Nur 31 Prozent sind 25 Jahre oder älter. Älter als 35 sind 15 Prozent aller Nutzer. Mit 60 Prozent Anteil dominieren Frauen das Netzwerk. 54 Prozent der Nutzerbasis verwenden ein iPhone, der Rest nutzt die App unter Android.
Längst werden auf TikTok nicht mehr nur Tanz-, Playback- und Katzenvideos hochgeladen. Auch Politiker, Promis, Sportler und andere inszenieren sich dort. Jüngstes “serlöses” Beispiel: Die Tagesschau mit ihrem Kanal. Aber auch für Azubimarketing wird TikTok bereits genutzt, hier sind es auf der einen Seite einige Mittelständler, die sich auf dem Medium versuchen, aber auch Konzerne, wie eben der Discounter Aldi Süd oder die Bundeswehr mit ihren Rekrutinnen.
Was ist so problematisch an TikTok?
Zunächst einmal gehört TikTok zum chinesischen Unternehmen ByteDance. (Nicht nur) in Amerika ist die Angst groß, dass TikTok die Jugend mit Parolen der Kommunistischen Partei indoktriniert und die User-Daten auf chinesischen Servern speichert. Zwar beteuert man bei TikTok in offiziellen Statements und persönlichen Gesprächen vehement, dass man natürlich absolut autark von ByteDance agieren und keinerlei Nutzerdaten aus dem Westen in China speichern würde. Aber das scheint wenig glaubwürdig. Warum?
- ByteDance hat nicht dementierten Medienberichten zufolge rund eine Milliarde Dollar in die Expansion von TikTok investiert. Von Unabhängigkeit kann da also kaum die Rede sein.
- TikTok hat eine chinesische Schwester-App, Douyin, die bereits viele Funktionen aufweist, die nach und nach bei TikTok implementiert werden. So gibt es zumindest bei der App-Entwicklung eine intensive Form der Zusammenarbeit.
- Bis zum Frühjahr 2019 hatten Angestellte in China das letzte Wort bei Moderationsentscheidungen von TikTok-Angestellten (die in Barcelona oder Berlin sitzen). Das widerspricht fundamental der Unternehmensdarstellung, China habe keinen Einfluss auf die Inhalte der App.
- Aus geleakten Unterlagen geht hervor, dass TikTok bestimmte Inhalte und Themen in vielen westlichen Ländern zu Beginn nicht erlaubte und diese entweder direkt gelöscht oder in ihrer Sichtbarkeit eingeschränkt wurden. So finden politische Äußerungen zum Tiananmen-Massaker, die Unabhängigkeit Tibets oder die Proteste in Hongkong, die derzeit weltweit mediale Aufmerksamkeit erregen, auf TikTok nicht statt. Und das, obwohl die App auch in Hongkong verfügbar ist. Gleiches gilt für die Lager in der Region Xinjiang, in der Chinas Führung Hunderttausende Uiguren interniert. Lager übrigens, von denen auch deutsche Unternehmen profitieren.
- Zudem hat sich TikToks Mutter ByteDance in Person von CEO Zhang Yiming dazu verpflichtet, den “four consciousnesses” von Chinas Staatschef Xi Jinping gerecht zu werden: dazu gehört die “correct guidance of public opinion” – also die korrekte Führung der öffentlichen Meinung (!).
- Zu guter Letzt wolle man sich bei ByteDance in China um eine “Vertiefung der Zusammenarbeit mit den maßgeblichen Medien der offiziellen Partei” bemühen. Mehr dazu hier.
Warum sollte TikTok tabu sein im Recruiting und Azubi-Marketing?
Eigentlich sollten die oben genannten Gründe bereits ausreichen, TikTok kritisch zu beäugen und sich gegen die Nutzung der App für Recruiting oder Azubimarketing zu entscheiden. Wem das noch nicht ausreicht, lege ich hier noch mal nach:
Gemäß Recherchen des Portals Reporter ohne Grenzen will China mit Milliarden Investitionen eine „neue Weltordnung der Medien“ schaffen. Im Rahmen einer langfristigen Strategie bauen Regierung und Kommunistische Partei dazu ihre Auslandsmedien aus, kaufen Anteile an Medien in anderen Ländern und bilden Tausende Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt zu pro-chinesischen Multiplikatoren aus.
„Um ihre totalitäre Vision handzahmer, aus Peking gelenkter Medien auch international durchzusetzen, sind der chinesischen Führung alle Mittel recht. Chinas Streben nach weltweiter medialer Dominanz ist eine konkrete Gefahr für demokratische Länder.“ Quelle
Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung chinesischer Desinformation spielt die chinesische Messaging-App WeChat. Die App des chinesischen IT-Konzerns Tencent (genau, das sind die, die fleißig beim Social Credit System, einem perfiden Überwachungssystem, mitmischen) wird von einer Milliarde Menschen genutzt, davon rund 100 Millionen außerhalb Chinas. Die von WeChat gesammelten Daten sind nicht verschlüsselt sind und werden auf Servern in China verwaltet. Sie stellen eine bedeutende Quelle für Zensur, Einflussnahme und Überwachung für das chinesische Regime dar. So wurden in China bereits einige Journalistinnen und Journalisten sowie Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten aufgrund von „Beweisen“ verurteilt, die aus ihren WeChat-Accounts stammten. Auch das ist beunruhigend: Im November 2017 investierte WeChat-Mutter Tencent nicht weniger als 1,76 Milliarden Euro in die US-amerikanische Multimedia-Messaging- und Foto-Sharing-App Snapchat und erhöhte ihren Kapitalanteil auf 12%. Was das für die Privatsphäre bedeutet, dürfte klar sein.
“Wo auch immer die Leser sind, wo auch immer die Zuschauer sind, dort müssen Propagandaberichte ihre Tentakel ausbreiten – und dort finden wir den Brennpunkt und Endpunkt der Propaganda- und Ideologiearbeit.” Xi Jinping
Als Recruiter tragen Sie Verantwortung gegenüber Bewerbern und Mitarbeitern
Man kann davon ausgehen, dass aufgrund oben genannter Punkte TikTok genau zu gleichen Zwecken eingesetzt wird: als ein Brenn- und Endpunkt von Propaganda- und Ideologiearbeit. Erste Anzeichen gibt es schon, werden China-negative Äußerungen bereits zensiert. Ich kann nur davor warnen, TikTok zu verharmlosen. Von Hysterie kann nach all den Fakten wohl kaum die Rede sein (aber es ist ja hip, von Hysterie zu sprechen, wenn man Fakten und Bedrohung nicht wahrhaben will – siehe etwa “Klimahysterie”). Nein, es ist nicht innovativ und schon gar nicht lobenswert, solche Apps für Azubimarketing oder Recruiting zu nutzen, wenn ganz offensichtlich die Gefahr der Zensur oder Überwachung durch die chinesischen Behörden besteht. Was so harmlos als Spaß-App daher kommt, ist wohl eher ein Trojanisches Pferd.
“TikTok erreicht die Zielgruppe, das ist es, was zählt. Was im Hintergrund passiert, welche pervers manipulativen Systeme dahinterstecken… das hinterfragt niemand. Reichweite, Klicks, Kandidaten und Awards… vom Glitzer, der unsere Selbstverliebtheit ziert, geblendet… da übersehen wir schon mal gerne, was hinter der Fassade steckt.” (Kommentar auf Twitter)
Bitte bedenken Sie, dass Sie auch als Recruiter eine (gesellschaftliche) Verantwortung tragen. Gegenüber Bewerbern und Mitarbeitern. Mit der Nutzung für TikTok entscheiden Sie sich für ein manipulatives System, über welches der chinesische Krake seine Tentakel ausbreitet. Wollen Sie das wirklich? Vielleicht hilft Ihnen bei der Entscheidung auch, dass es massive Datenschutzbedenken bei der Nutzung von TikTok gibt.
Wer sich intensiver mit dem Einfluss Chinas beschäftigen möchte, dem sei die Dokumentation “Chinas Pursuit of a new world media order” dringend ans Herz gelegt (zu Deutsch: Chinas Streben nach einer neuen Weltmedienordnung). Alle anderen können natürlich weiterhin auf die App setzen. Schließlich tummelt sich ja die Zielgruppe dort. Also los, worauf warten Sie noch? Erheischen Sie Likes, Shares und Impressions und scheißen Sie auf Zensur, Indoktrination und Verletzung der Menschenrechte!
Update: Heute wurden weitere Inhalte aus den geleakten Dokumenten (s. o.) veröffentlicht. Demnach hat TikTok seine Moderatoren angewiesen, Videos von Menschen mit Behinderungen zu markieren und in ihrer Reichweite zu begrenzen. Auch queere und dicke Menschen landeten auf einer Liste von „Besonderen Nutzern“, deren Videos grundsätzlich als Mobbing-Risiko betrachtet und in der Reichweite gedeckelt wurden – ungeachtet des Inhaltes. Mehr dazu hier.
Update 4. Mai 2020: Es hat lange gedauert, bis bei der Bundeswehr Einsicht eingekehrt ist. Der TikTok-Account von@bundeswehrinfo wurde nun endlich aus datenschutzrechtlichen Gründen eingestampft. Gut so! Vielleicht sollten sich Unternehmen wie Lidl, Aldi uva. ein Beispiel daran nehmen!
Update 1. Juli 2020: Wieder einmal steht TikTok in den Schlagzeilen. Diesmal, weil die App die Zwischenablage von iPhones ausgelesen und auf diese Weise Millionen von Apple-Nutzern ausspioniert hat. Vorsicht ist geboten, schreibt auch T3N.
Update 4. Juli 2020: Die Welt greift meinen Artikel unter dem Titel “So sinnvoll ist der Tiktok-Plan von Lidl und Aldi” auf und ergänzt ihn um weitere Aspekte.
Update 8 Juli 2020: Verbot von TikTok in den USA denkbar. US-Außenminister Mike Pompeo denkt öffentlich über ein Verbot von TikTok nach.
Update 8. Juli 2020: Auch Blogger-Kollege und Recruitainment-Experte Jo Diercks warnt vor dem Einsatz von TikTok im Personalmarketing.
Chris
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MDR trennt sich von Steimle, Löscht den Mist, Post-Relotius-Reporterpreis - Allibi
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