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Lesezeit: 5 Min. Karriere-WebsitesPersonalmarketingRecruiting
Nachdem viele Unternehmen vom Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) (Stichtag 28. Juni 2025) bis heute nichts gehört haben, droht nun weiteres Ungemach. Das BFSG verpflichtet Unternehmen, bestimmte Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zu gestalten. Auch (Karriere-)Websites sind davon betroffen. Noch bevor das Gesetz in Kraft tritt, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales nun eine weitere Verschärfung des Gesetzes angekündigt, die speziell auf Bewerbermanagementsysteme (ATS) und Karriereseiten abzielt.
Hintergrund dieser Gesetzesnovelle ist laut Website des Ministeriums “die anhaltende Problematik der Personalgewinnung und Stellenbesetzung (im Folgenden als “Fachkräftemangel” bezeichnet) sowie die daraus resultierenden negativen volkswirtschaftlichen Implikationen, die zu einer quantifizierbaren Beeinträchtigung des gesamtwirtschaftlichen Potenzials führen“.
Während das BFSG bereits im Juni 2025 in Kraft tritt, gelten die Neuerungen für das Recruiting erst ab dem 1. Januar 2026. Ab diesem Zeitpunkt sind Unternehmen verpflichtet, ihren Bewerbungsprozess vollständig barrierefrei zu gestalten. Dies betrifft nicht nur die unternehmenseigenen Systeme (Karriereseite), sondern auch die eingesetzte Bewerbermanagement-Software (inklusive Stellenportal, Stellenanzeige und Bewerbungsformular).
Ziel ist ein barrierefreier Bewerbungsprozess, der ohne Medienbrüche auf allen Endgeräten uneingeschränkt zugänglich ist.
Die Kernpunkte der Gesetzesnovelle umfassen neben der vollständigen Barrierefreiheit für alle Systeme (Karriereseite, Stellenportal, Stellenanzeige, Bewerbungsformular; WCAG 2.2 Level AAA (höchste Stufe)) eine vollständig barrierefreie Eingangsbestätigung (Bewerberkorrespondenz) in mindestens drei alternativen Formaten (Text, Audio und Gebärdensprachvideo) und einen Bewerbungsprozess, der auch ohne Maus, also nur mit Tastatur und Sprachsteuerung, durchführbar sein muss.
Eine ganz besondere Herausforderung stellt jedoch die Zertifizierung sowohl des Bewerbungsprozesses an sich (s. o.) als auch des verwendeten ATS durch eine staatlich anerkannte Prüfstelle wie z. B. den TÜV dar. Insbesondere für die für ihre hürdenreichen Bewerbungsprozesse bekannten globalen Anbieter wie Worst Work Day, SuccessFactors oder Taleo dürfte dies eine Herausforderung darstellen und es ist fraglich, ob bis zum genannten Stichtag alle Unternehmen die erforderliche Zertifizierung vorweisen können.
Dass ein Verstoß gegen die Novelle für das Bundesministerium kein Kavaliersdelikt ist, zeigen die Bußgelder von bis zu 500.000 Euro, die Unternehmen drohen, die die neuen Anforderungen nicht erfüllen. Im schlimmsten Fall droht einem Unternehmen sogar ein vorübergehendes Verbot der Stellenausschreibung von bis zu 6 Monaten – gestaffelt nach der Schwere des Verstoßes.
Hintergrund der Verschärfung sind neben der desaströsen Einstellungspraxis vieler Unternehmen mehrere wegweisende Gerichtsurteile, die den Zusammenhang zwischen Barrierefreiheit und Diskriminierung im Bewerbungsprozess hergestellt haben. So hat das Bundesarbeitsgericht in einem Urteil vom 1. April 2021 (8 AZR 279/4711) die Rechte schwerbehinderter Bewerber gestärkt und festgestellt, dass nicht barrierefreie Bewerbungsverfahren eine Diskriminierung darstellen können. Auch Rechtsexperten bestätigen, dass bereits eine nicht barrierefreie Karriereseite, eine nicht barrierefreie Stellenanzeige oder ein nicht barrierefreies Bewerbermanagement-Tool einen Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) darstellen kann.
Die neuen Regelungen adressieren zahlreiche Barrieren, die (nicht nur) Menschen mit Behinderungen bisher im Bewerbungsprozess behindert haben:
Viele Bewerbermanagementsysteme erfordern die Erstellung eines Benutzerkontos mit komplexen Passwortanforderungen, bevor überhaupt eine Bewerbung eingereicht werden kann. Für Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder Lernbehinderungen stellt dies eine erhebliche Hürde dar. Nur zur Erinnerung: Die Zwangsregistrierung ist eine der größten Barrieren im Recruiting-Prozess – nicht nur für Menschen mit Behinderungen, sondern für alle Bewerber. Den Unternehmen gehen dadurch viele qualifizierte Bewerber durch die Lappen.
Zu den typischen Problemen bei Bewerbungsformularen zählen – neben der oft viel zu hohen Komplexität – z. B. unzureichende Kontraste zwischen Text und Hintergrund, zu kleine Schriftgrößen, die zudem nicht angepasst werden können, zeitliche Begrenzungen, die für Menschen mit motorischen Einschränkungen problematisch sind oder komplizierte Captchas.
Viele Karriereseiten und Bewerbungsportale sind ausschließlich mit der Maus bedienbar. Für Menschen mit motorischen Einschränkungen, die auf Tastatur, Sprachsteuerung oder spezielle Eingabegeräte angewiesen sind, ist dies ein unüberwindbares Hindernis.
Neben einer nicht funktionierenden Volltextsuche sind auch komplexe Filteroptionen des unternehmenseigenen Stellenportals (oder das Stellenportal des ATS-Anbieters) ein Barrierefreiheitskiller, den die Gesetzesnovelle lahmlegen will. Dazu gehören Filter- und Steuerfunktionen, die nicht mit der Tastatur bedienbar sind, keine klare Fokusanzeige haben, keine logische Tab-Reihenfolge aufweisen oder nicht mit Screenreadern kompatibel sind.
Die mangelnde Barrierefreiheit in Bewerbungsprozessen führt darüber hinaus zu systematischer Diskriminierung verschiedener Gruppen:
All diese Barrieren widersprechen den Prinzipien von Diversity, Equity und Inclusion (DEI). Unternehmen, die ihre Bewerbungsprozesse nicht barrierefrei gestalten, verlieren nicht nur potenzielle Mitarbeiter, sondern entlarven sich gleichzeitig als Betreiber von oberflächlichem Diversity-Washing.

Analysen zeigen, dass derzeit nur etwa 4 Prozent aller Websites den Anforderungen der Barrierefreiheit entsprechen. Bei Karriereseiten und Bewerbermanagementsystemen dürfte der Anteil noch geringer sein. Es liegt jedoch auf der Hand, dass barrierefreie Karriereseiten und ATS zu mehr Bewerbungen führen können. Die Verschärfung des Gesetzes mag kurzfristig schmerzhaft sein, langfristig werden alle Unternehmen im Recruiting davon profitieren.
Ein wichtiger Hinweis in der Novelle betrifft auch den Einsatz sogenannter Overlay-Tools. Diese JavaScript-basierten Lösungen werden häufig als einfache und kostengünstige Möglichkeit beworben, Webseiten barrierefrei zu gestalten. Die Bundesfachstelle für Barrierefreiheit in der Informationstechnik (BFIT-Bund) hat jedoch in einer offiziellen Stellungnahme klargestellt, dass solche Overlay-Tools nicht ausreichen, um die gesetzlichen Anforderungen an die Barrierefreiheit zu erfüllen. In der Stellungnahme heißt es, dass diese Tools bestenfalls als ergänzende Maßnahme, keinesfalls aber als Ersatz für eine barrierefreie Gestaltung der Website angesehen werden können. In der Tat stellt auch die Gesetzesnovelle unmissverständlich klar, dass nur eine grundlegende barrierefreie Gestaltung der Karriereseite und der nachfolgenden Komponenten akzeptiert wird.
Fakt ist: Die Verschärfung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes wird den Recruiting-Markt ordentlich durcheinander wirbeln: Nicht nur die Anbieter von ATS werden endlich zum Handeln gezwungen – auch Unternehmen sollten jetzt handeln und ihre Bewerbungsprozesse und Karriereseiten bis spätestens 31.12.2025 auf Barrierefreiheit überprüfen und anpassen.
Schließlich ist Barrierefreiheit im Bewerbungsprozess weit mehr als eine gesetzliche Verpflichtung: Sie ist vielmehr ethische Verantwortung und wirtschaftliche Chance. Unternehmen, die ihre Recruiting-Prozesse “inklusiv” gestalten, erschließen sich einen größeren Talentpool, positionieren sich als fortschrittliche und sozial verantwortliche Arbeitgeber – was sich auch positiv auf die Arbeitgebermarke auswirkt (Stichwort: Signaltheorie).
Hier geht es zum kompletten Gesetzestext (PDF).
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