26. Juni 2018
Verzweifelter Kampf gegen den Fachkräftemangel: Deutsche Bahn schafft das Anschreiben ab
Lesezeit: 6 Min. AusbildungsmarketingKarriere-WebsitesPersonalmarketing
Ein Anschreiben zu verfassen ist für viele wie der Besuch beim Zahnarzt oder Zahnschmerzen. Zu dem Ergebnis kommt zumindest eine Studie des Portals meinestadt.de. Bei der Bahn ist jetzt Schluss mit diesen Schmerzen. Zumindest für Azubis. Damit ist die Deutsche Bahn zwar nicht der erste Arbeitgeber, aber wohl auch nicht der letzte, der eins der überflüssigsten “Auswahlinstrumente” im Recruiting abschafft: Das Anschreiben. Zunächst einmal bei den Azubis, aber auch weitere Bereiche stehen auf dem Prüfstand. Klar, die Bahn hat massive Probleme, den hohen Fachkräftebedarf zu decken. Da gilt es, die Bewerbungshürden auf ein Minimum zu senken. Ob diese Maßnahme aber ausreicht, um die fehlenden Bewerber zu generieren?
Tatsächlich stellt das Anschreiben eine der größten Hürden im Bewerbungsprozess dar (dicht gefolgt von den Bewerber in die Flucht schlagenden Online-Bewerbungsprozessen. Hier gehen durchschnittlich 70 Prozent der Bewerber verloren (!!!), wie Berechnungen der Kollegen von der Wollmilchsau ergeben). Obwohl verschiedene Studien und auch die Forschung den Un-Nutzen des Anschreibens belegen, halten viele Unternehmen beharrlich daran fest. Die Deutsche Bahn will das jetzt ändern und zunächst einmal ab Herbst bei Bewerbungen auf Ausbildungsplätze auf das Motivationsschreiben verzichten. Ab dann reicht es, wenn potenzielle Azubis nur noch Lebenslauf und Zeugnisse über die E-Recruiting-Plattform einreichen.
Anschreiben abschaffen fatales Signal oder der richtige Weg?
19.000 Mitarbeiter will der Staatskonzern in diesem Jahr einstellen, darunter 3.600 Auszubildende bzw. dual Studierende. “Für Schüler ist so ein Motivationsschreiben schon schwierig“, wird Personalerin Carola Hennemann, zuständig für die Personalgewinnung in Baden-Württemberg, in der Presse zitiert. Und nicht nur für die Schüler, wie eben die oben zitierten Studien belegen. Während man das Vorhaben auf der einen Seite als fatales Signal sieht, weil so der Eindruck entstünde, die Bahn würde jeden nehmen und auf diese Weise gute Bewerber abschrecken und die Corporate Identity schädigen, sehe ich das Ganze durchaus positiv. Wobei ich mir schon die Frage stelle, wie man auf Basis des Lebenslaufs und von Zeugnissen die Eignung eines Azubis einschätzen will, ist Potenzial doch weit mehr als nur Schulnoten (vielmehr haben die Jungs und Mädels in der Lebensphase in und außerhalb der Regel nicht vorzuweisen) und fällt der Lebenslauf in so jungen Jahren nicht besonders üppig aus. Wobei Ausbildung nicht unbedingt eine Frage des Alters ist, wie bspw. die ING-Diba eindrucksvoll beweist. Auch lässt sich anhand der Schulnoten nicht wirklich vorhersagen, wie sich ein Mensch im Job entwickelt.
Insofern scheinen mir die Bewerbercastings, die ja nun bereits seit einiger Zeit durchgeführt werden (und für die auch kein Anschreiben erforderlich war), kein so schlechter Weg. Diese in Verbindung mit Probearbeitstagen oder Kurzpraktika scheinen mir ein sinnvolles Auswahlinstrument. Dennoch: Bei der Bahn scheint man optimistisch, denn wenn bei den Auszubildenden gute Erfahrungen gemacht werden, will man die verkürzte Bewerbung auch auf weitere Berufsgruppen ausweiten. Ob es nicht sinnvoller wäre, zunächst mit Berufsgruppen anzufangen, bei denen es garantiert noch weniger aufs Anschreiben ankommt? Software-Entwickler bspw., deren Job es ja eigentlich nur sein sollte, zu coden – was sie definitiv nicht über ein Anschreiben unter Beweis stellen könnten?
Du in der Bewerberansprache und Abschaffen des Anschreibens als Waffe gegen den Fachkräftemangel?
Aber ohnehin kann man sich fragen, ob das “Du” in der Bewerberansprache und das Abschaffen des Anschreibens im verzweifelten Kampf der Bahn gegen den empfundenen Fachkräftemangel hilft. Die Bahn probiert vieles aus: Bewerbercastings, Performance Personalmarketing, Active Sourcing (ein Blick in die Stellenbörse vermittelt einen Eindruck, wie die Bahn hier massiv aufrüstet) … Doch auch wenn das Verkehrsunternehmen hier recht erfolgreich ist und die Wahrnehmung bei Bewerbern so groß ist wie nie, wie auch die Ergebnisse der neuesten Social Media Personalmarketing Studie belegen (Ergebnisse folgen, noch etwas Geduld), verschenkt die Bahn eins ihrer größten Potenziale: Das Kundenportal bahn.de sowie die App DB-Navigator. Monatlich von vielen Millionen Fahrgästen und Kunden genutzt, stellen diese Einstiegskanäle eigentlich die nächstliegende Lösung in der Bewerberansprache dar (abgesehen von Lautsprecherdurchsagen natürlich). Vor einiger Zeit hatte ich schon anhand eines Screenshots simuliert, wie man bspw. auf das Bewebercasting aufmerksam machen und zahlreiche Bewerbungen generieren könnte. Wenn man denn wollte. Offensichtlich ist es der Bahn dann doch nicht so ernst mit ihrer langfristig angelegten Strategie DB 2020+.
Ein Zahlenbeispiel möge dies verdeutlichen. Aktuell werden nur die Besucher einer der meistbesuchten Websites Deutschlands auf die Bahn als Arbeitgeber aufmerksam, die gezielt nach Karriere-Informationen suchen. Ganz am Ende der Seite, versteckt zwischen den Links Impressum, AGB, Nutzungsbedingungen, Datenschutz, deutschebahn.com und Kooperationen, kauert sich der Karriere-Link verschämt in den Schatten der anderen Seitenverweise. Sich auf der “Durchreise” befindliche Nutzer, aka wechselwillige Berufstätige oder aber auch Eltern bzw. Großeltern als Multiplikatoren, entgehen so tolle Karriere- und Ausbildungsperspektiven bei einem der größten Arbeitgeber Deutschlands. Und der Bahn jede Menge Bewerbungen.
Bahn verschenkt Millionen-Potenzial
Rund 30 Millionen Seitenaufrufe im Monat, ca. 1,8 Millionen am Tag. So viele zählen zumindest Similarweb bzw. Alexa. Die Zahlen zeigen eindrucksvoll: da geht was. Und zwar einiges. Schaut man sich die Auswertungen von Website-Analysen an, so ist der Karrierebereich erfahrungsgemäß der nach der Startseite zweithäufigst aufgerufene Bereich einer Website. Je nach Unternehmen entfallen im Schnitt zwischen 20 und 50 Prozent auf die Arbeitgeber-Präsenz. Vorausgesetzt, er liegt im sichtbaren Bereich. Der Footer und selbst die Meta-Navigation gehören nicht dazu.
Gehen wir mal von den 30 Millionen Seitenaufrufen aus. Nähmen wir nun mal an, nur 0,05 Prozent der Aufrufe davon würden auf den Karrierebereich entfallen. Das wären selbst bei einem solch geringen Anteil an Besuchern immerhin 15.000 Seitenaufrufe. Und wenn wir nun von den o. g. 20 bis 50 Prozent ausgingen, wären es sogar 6 Millionen bzw. 15 Millionen. 6 oder 15 Millionen! In einem Monat!
Bis zu 15 Millonen Seitenaufrufe des Karrierebereichs möglich
Sollte man angesichts solcher Zahlen nicht mal darüber nachdenken, den Karriere-Button prominent in der Hauptnavigation zu platzieren? Oder zumindest temporär einen Banner einzurichten, wie ich es seinerzeit einmal vorgeschlagen hatte? Auch hier würden die Zugriffe auf die Karriere-Website exponentiell ansteigen, wie das Beispiel eines Versicherungsunternehmens zeigt, welches genau das versucht hatte. Während die Karriere-Website sonst eher ein trauriges Dasein fristete, schnellten die Zugriffe in der Testphase rapide nach oben.
Das Recruiting-Team geht neue Wege, aber nicht den nächstliegenden
HM – das Recruiting-Team der Deutschen Bahn “bleibt nicht stehen, überdenkt sich immer wieder neu und sucht stets nach neuen Wegen, um gute, passende und ebenso begeisterte neue Kollegen für die Deutsche Bahn zu gewinnen“. Abgesehen davon, dass keiner weiß, was sich hinter der Abkürzung “HM” versteckt, stelle ich mir die ewig gleiche Frage: Warum in die Ferne schweifen, liegt das Gute doch so nah? Neue Wege in der Bewerberansprache zu gehen, ist gut und richtig. Insofern gehört auch das Anschreiben aufs Altenteil. Aber warum nicht auch die Wege nutzen, die so naheliegend sind, wie nur irgendwas? Also, seien Sie schlauer als die Bahn und betrachten Sie jeden Besucher Ihrer Website als potenziellen Bewerber oder Multiplikator. Sie werden sich wundern, wie sich das auf Ihre Bewerbungseingänge auswirkt. Vorausgesetzt, Sie verzichten auf abschreckende Bewerbungsformulare. Siehe oben.
Einseitige Bewerberansprache: Wer da sucht, hat nichts zu bieten?
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Andreas Schuster
Die Qual der Wahl bei Bewerbermanagement-Systemen
Jo Diercks
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