6 Thesen zu HR, Recruiting und Digitalisierung – und dem Fachkräftemangel

Lesezeit: 9 Min. HRRecruiting

Die deutschen Personalabteilungen, zumindest der überwiegende Teil von ihnen, sind seit 10 Jahren eine lebendige Leiche. Sie überlebt zwar noch, irgendwie. Mehr allerdings auch nicht.” Harte Worte, die nicht von mir stammen, sondern von Thomas Sattelberger, selbst seinerzeit Personaler. Allerdings gibt es auch anderswo Leichen im Keller, denn Recruiting macht ja je nach Unternehmensgröße oder Organisation nicht zwingend die Personalabteilung. Dennoch, geht es um die Themen Fachkräftegewinnung (aka “Recruiting”) und Digitalisierung – welche überraschenderweise in einem direkten Kontext zum “Fachkräftemangel” stehen, so liegt der damalige Konzernpersonaler von Telekom und Lufthansa scheinbar nicht ganz falsch.

Immer noch ist in vielen Unternehmen nicht angekommen, dass sich der Arbeitsmarkt gewandelt hat. Längst sind die Bewerber am Zug und können sich aus vielen Arbeitgebern den aussuchen, der ihnen am attraktivsten bzw. passendsten erscheint. Natürlich nur aus denen, die auch von ihnen wahrgenommen werden. Und während wir uns längst mitten in der schönen neuen Welt der Digitalisierung befinden und deren Technologien nutzen und sich unsere Handlungsweisen und Wertevorstellungen geändert haben, betrachten Unternehmen Personal (sowohl den Unternehmensbereich als auch die Mitarbeiter) nur als Kostenfaktor und nicht als strategischen Wettbewerbsvorteil.

Zudem ist das (strategische) Recruiting – egal ob digital oder analog – nach wie vor ein Stiefkind in den Unternehmen. Insofern müssen wir uns also über den “Fachkräftemangel” nicht wundern. Letzterer ist in den meisten Fällen nämlich nur der Ausdruck verkrusteter Strukturen und der mangelnden Bereitschaft sich mit einer zielgruppen- und bedürfnisgerechten Bewerberansprache sowie (oft gar nicht mal so) neuen Technologien und Tools auseinanderzusetzen und digitale Kompetenzen aufzubauen.

#1. Die digitale Kompetenz der Personaler tendiert gegen null.

Auch diese Äußerung stammt von Thomas Sattelberger. Allerdings können Sie als Leser dieser Zeilen schon einmal stolz sein: Ein Mindestmaß an digitaler Kompetenz bringen Sie auf jeden Fall mit ;). Ansonsten hätten Sie diesen Blog in diesem verflixten Neuland Internet nämlich gar nicht gefunden. Ich schätze mal, dass maximal 30 Prozent der deutschen Personaler (oder weniger?) ansatzweise internetaffin sind. Über die geforderten digitalen Kompetenzen verfügen wahrscheinlich noch weniger (möglicherweise irre ich mich auch). Warum das so ist, kann ich nur vermuten. Oft sind Personalleiter bspw. Juristen älteren Semesters, die mit diesem neumodischen Krams nix zu schaffen haben wollen. Aber auch dass jemand jung ist und bspw. der Generation Y oder Z angehört, ist kein Garant für eine Personalarbeit, die neue Wege geht oder gar für einen neuartigen Recruitingansatz. Wie auch, schließlich ist man auf der Hochschule zum Verwalter ausgebildet worden und – wenn man nicht das Tun der Führungskraft reflektiert – wird ohne Nachdenken schnell die gleichen Fehler machen, wie bisher. Aber wir alle wissen auch: Das Ganze hat nichts mit dem Alter, dem Geschlecht oder der Herkunft oder was auch immer zu tun. Entscheidend ist immer die innere Haltung.

HR als Treiber der Digitalisierung?

So konstatiert Sattelberger denn auch, dass HR zwar Treiber der Digitalisierung sein müsste, aber hilflos hinterherhinken würde. Viele Verantwortliche wüssten zu wenig über die technologischen Kräfte der Arbeitswelt der Zukunft (und heute). Gebraucht würden Personaler, die konzeptionell denken können und vor allem wollen. Vielen fehle es an Spritzigkeit, an Inspiration, an Innovation, so Sattelberger weiter. Natürlich, es gibt Ausnahmen, die für ihr Tun auch zurecht ausgezeichnet werden – aber diese sind bei Weitem nicht die Regel, auch wenn wir das vielleicht in unserer Filterblase nicht wahrhaben wollen.

Digitalisierung: ein durch technologische Entwicklungen getriebener bzw. ermöglichter Transformationsprozess von Unternehmen bzw. ganzen Branchen, der weitreichende strategische, organisatorische  und sozio-kulturelle Änderungen mit sich bringt.

Während die Digitalisierung im täglichen Leben längst Einzug gehalten hat (Whatsapp/Messenging, Mobile Banking, Online-Dating via Tinder, Essenfassen via Foodora, Mobile Shopping, Google Maps statt Gelbe Seiten, Wikipedia statt Brockhaus, Wearables zum Tracken der Gesundheitsdaten, Smart Home uvm.), findet sie in der HR- bzw. Recruiting-Welt bisher kaum statt. Oder in blindem Aktionismus, siehe Recruiting-Chatbots oder TikTok. Und in der Regel bringen Bewerber mehr digitale Kompetenz mit, als die Recruiter selbst und erwarten, das was sie im Privatleben vorfinden, auch in den Bewerbungsprozessen der Unternehmen, bspw. eine Bewerbung mit einem Klick über eine mobil optimierte Karriere-Website. Oder Antwortraten wie man sie von einer Bestellung bei Amazon & Co. kennt – also maximal innerhalb weniger Tage und nicht binnen mehrerer Wochen. Oder nie.

#2. Ohne digitale Kompetenzen – oder auch im engeren Sinne “Digital Leadership” von HR – werden Unternehmen bzw. im ersten Schritt Personalabteilungen und das Recruiting vor die Wand fahren.

Die Aufgabe von HR ist es (grob zusammengefasst), ein Unternehmen am Leben zu erhalten. Das geht nur mit den passenden Mitarbeitern. Der Arbeitsmarkt tut uns leider nicht den Gefallen, dahin zurückzukehren, wo er einmal war, nämlich Bewerber in Hülle und Fülle zu liefern, aus denen man sich die Rosinen rauspicken kann, wir haben einen Bewerbermarkt. Und dieser wird immer digitaler. Auf beiden Seiten. Bewerbungsprozesse, die ewig dauern und nicht zeitgemäß sind (bspw. Bewerbungen, die, selbst wenn sie digital eingingen, erst einmal ausgedruckt werden und dann per Hauspost weiterverteilt werden – Sie lachen, in vielen Unternehmen ist das noch bittere Realität!), das Beschränken auf einen Ausschreibungskanal (Stichwort Reichweite) und die Behandlung der Bewerber als Bittsteller im Unternehmen, die mit Stellenanzeigen abgespeist werden, die sich wie ein Rezept lesen und den Charme eines Beipackzettels haben, werden Unternehmen neben untätigen und auf dem Stand des letzten Jahrzehnts stehenden Recruiting-Verantwortlichen das Rückgrat brechen.

#3. Angst vor der Digitalisierung müssen nur die haben, die sich nicht damit auseinandersetzen wollen

Genau diese Menschen und abhängig Beschäftigten sind es, die spielend leicht durch die Roboter und maschinelle Intelligenz ersetzt werden. Die Welt ist im Wandel und dreht sich immer schneller. Ob wir das wahrhaben wollen, oder nicht: Der Wandel ist die einzige Konstante. Und das schon seit Menschengedenken. Nur eben mit der Ausnahme, dass die Geschwindigkeit rasend zunimmt. Wer sich diesem Wandel nicht stellt, sich nicht weiterentwickelt und den alten Stiefel weiter so fährt, wie bisher (das haben wir immer schon so gemacht, da hat das auch funktioniert), der muss tatsächlich Angst davor haben, dass sein Arbeitsplatz durch eine leistungsfähigere Anwendung ersetzt wird.

#4. Wer digitale Kompetenzen (nicht nur im Recruiting) aufbaut, muss keine Angst vor der Digitalisierung haben, sondern profitiert von ihr.

Wenn ich von digitalen Kompetenzen spreche, so meine ich damit Kenntnisse und Wissen über die Anwendung und Nutzung von Software (oder nennen wir es meinetwegen auch HR-Tech) und KPI (oder nennen wir es Kennzahlen) – und natürlich die Fähigkeit, sich zu vernetzen, zu öffnen und empathisch zu agieren. Sowohl das Wissen über die Anwendung solcher Kennzahlen, als auch das Wissen über die verschiedenen HR-Tech-Anwendungen, erleichtert das Leben eines Recruiters respektive HR-lers ungemein und ermöglicht es ihm sogar, eine Rolle einzunehmen, die endlich die Anerkennung erhält, die sie verdient (vorausgesetzt, die innere Haltung stimmt. Die wiederum bedingt aber das hier Geschriebene).

Man denke nur an die Möglichkeiten, die People Analytics (oder auch HR Analytics), cloudbasierte E-Recruiting-Prozesse, die durch den Einsatz maschinellen Lernens effizienter werden, Programmatic Job Advertising, Matching-Tools oder einfach nur solch vermeintlich simplen Dinge wie die Auswertung der Zugriffe und Abbruchraten auf Karriere-Websites oder bei Online-Bewerbungsformularen und vieles mehr, bieten. Transparenz und faktenbasiertes Recruiting. Zahlen, mit denen man argumentieren kann. Prozesse, die effizienter sind und Bewerber, Recruiter und in der Folge das Unternehmen und seine Mitarbeiter glücklicher machen (denn deren Existenz wird sichergestellt).

Wenn es nicht gerade die Nutzung von Systemen ist, die uns auf Basis der Analyse der Stimme oder des geschriebenen Wortes weismachen wollen, die Persönlichkeit respektive Eignung eines Bewerbers vorherzusagen, so bietet die Digitalisierung viele Vorzüge, die das Leben eines HR-lers oder Recruiters – und in der Folge eines Bewerbers und Mitarbeiters – besser machen, als das bisher vorstellbar war. Und das Einschätzen dieser vermeintlichen Heilsbringer ob ihrer Eignung wird dazu führen, dass so manche fragwürdigen Anbieter mit ihrer Geschäftsidee von dannen ziehen, weil Sie in der Lage sind, deren Scharlatanerie zu entlarven. Das indes geht freilich nur, wenn sie sich mit diesen Tools auseinandersetzen.

#5. Aufgabe von HR ist es den Erfolg der Unternehmen zu sichern.

Nämlich durch die passenden (Betonung auf passenden, also zur Stelle und der Kultur des Unternehmens) Bewerber zur richtigen Zeit, am richtigen Ort. Nur so kann der Erfolg eines Unternehmens gesichert werden. Das indes haben offensichtlich viele Unternehmenslenker nicht verstanden und so werden Budgets für HR entweder nicht bewilligt oder gestrichen. Umso wichtiger ist es, mit Fakten argumentieren zu können: Mit entsprechenden Kennzahlen bspw. Zudem muss sich HR in Sachen Digitalisierung zwei Herausforderungen stellen: Da ist zum einen die Mitwirkung bei der digitalen Transformation des Unternehmens, zum anderen die digitale Transformation der HR-Funktion. Nur wie soll HR diese Herausforderungen meistern, wenn die Kompetenzen nicht vorhanden sind? HR respektive Recruiting muss sich intensiv und dringend mit der Digitalisierung beschäftigen. Wenn Sie nun argumentieren, Sie hätten ja keine Zeit und keine Ressourcen, so müssen Sie diese eben einfordern. Hilfreich sind da eben die oben erwähnten KPI sowie gesammelte Fakten (die Sie z. B. auf dem HR-Studien-Download-Portal von Stefan Scheller finden).

#6. Das ist nur möglich mit dem richtigen Mindset. Und digitaler Kompetenz.

Leider ist aber genau dies beides bei vielen HR- und Recruiting-Verantwortlichen nicht ausreichend ausgeprägt. Eine innere Haltung lässt sich indes nicht aufzwingen. Wer aber ins HR gerutscht ist, weil er “schon immer was mit Menschen machen wollte” oder weil eben nach der Elternzeit eine Stelle im HR frei war und HR kann ja jeder (so zumindest die Denke in vielen Unternehmen) und auch weiterhin seinen Job machen will und ihn nicht der KI respektive Robotern überlassen will, der sollte schleunigst umdenken. Und auf diese Weise sich selbst, seinen Arbeitsplatz und den Unternehmenserfolg retten.

Klar, Sie können nicht sofort die Welt verändern. Aber der erste Schritt ist der wichtigste, den müssen Sie bereit sein zu gehen. Zum Beispiel zu Kollegen aus anderen Fachbereichen, Stichwort interne Vernetzung und Silos aufbrechen. Zu Kollegen aus anderen Unternehmen, Stichwort externe Vernetzung und Erfahrungsaustausch. Möglichkeiten gibt’s derer viele, die auch gar nicht viel kosten müssen (aber dürfen): Besuchen Sie (HR) Barcamps (oder organisieren Sie interne), Meetup-Gruppen (z. B. HR Wiesbaden RheinMain), den HR Innovation Day in Leipzig oder die HR TecNight… Lesen Sie Blogs, Bücher (z. B. Personalmarketing in 3D, Digital HR, Crashkurs Recruiting), reden Sie mit Menschen, werfen Sie einen Blick über den Tellerrand oder zerschlagen Sie ihn am besten ganz. Klar sollte uns sein, die Digitalisierung der Welt ist schon in vollem Gange. Wollen wir nicht von ihr abgehängt werden, so ist es Zeit zu handeln. Jetzt.

Kommentare (3)

Das sind die Recruiting-Trends für 2018

[…] künstliche Intelligenz ersetzt kein Bauchgefühl und schon lange kein offenes Recruiter-Mindset. Das wiederum ist dringend erforderlich, um den in Punkt 1 genannten Bewerbermarkt und dem Einsatz „neuer“ Technologien […]

personalmarketing2null

Moin, danke für deine Einschätzung! Den Bedeutungszuwachs bekäme HR automatisch, wenn man Kompetenz signalisieren und faktenbasierte Argumente liefern würde. Dann wären auch Budgets möglich, von denen man vorher nicht mal zu träumen gewagt hat, dass sie jemals bewilligt würden :D

Martin Wilbers

Vieles von dem, was oben steht und was Sattelberger gesagt hat, ist sicherlich richtig. In Nordfranken habe ich dazu eine Studie durchgeführt und war doch recht erschrocken, wie mit dem Thema "digitales Recruiting" umgeht. Und das beginnt schon damit, dass sich zwar viele Unternehmen irgendwie darin versuchen, aber absolut nicht einschätzen können, welche Strategien denn funktionieren und was keinen Sinn macht. Das liegt mitunter auch daran, dass einfach keine vernünftigen Messinstrument eingesetzt werden und das macht es schwer. Bei all dem darf man aber ein paar Dinge nicht vergessen, finde ich: Auch die Personaler werden jünger. Genauso wie das Thema "Digitalisierung" häufig in Unternehmen mit jüngerer Geschäftsführung stärker und zielgerichteter unterwegs ist, wird sich das über die Zeit auch im Personalmarketing entwickeln. Die Krux ist aber auch ein bisschen, dass digitale Kompetenz allein nicht genügt. Immer wieder höre von Personalern im Mittelstand, dass ihr Wort und ihre Meinung eigentlich kaum Gewicht hat. Ihr Budget umfasst die Personalkosten des gesamten Unternehmens plus ein bisschen Geld für die eine oder andere Stellenanzeige, die selbstverständlich nach wie vor auch noch print (und damit sauteuer) veröffentlicht wird. Leider ganz unabhängig davon, ob man so die relevante Zielgruppe erreicht oder nicht. Der Chef will es so. Deshalb braucht es neben der digitalen Kompetenz auch einen Bedeutungszuwachs des Personalmanagements, zumindest im Mittelstand. In Konzernen sitzt der Chef-Personaler wenigstens häufiger mal mit im Vorstand. So wie es auch Thomas Sattelberger getan hat. Im Mittelstand, dem "Rückrat der deutschen Wirtschaft", ist das leider oftmals ganz anders.
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Moin! Ich bin Henner Knabenreich. Seit 2010 schreibe ich hier über Personalmarketing, Recruiting und Employer Branding. Stets mit einem Augenzwinkern oder den Finger in die Wunde legend. Auf die Recruiting- und Bewerberwelt nehme ich auch als Autor, als Personalmarketing-Coach, als Initiator von Events wie der HR-NIGHT oder als Speaker maßgeblich Einfluss auf die HR-Welt. Sie möchten mich für einen erfrischenden Vortrag buchen, haben Interesse an einem Karriere-Website-Coaching, suchen einen Partner oder Berater für die Umsetzung Ihrer Karriere-Website oder wollen mit bewerberzentrierten Stellenanzeigen punkten? Ob per E-Mail, XING oder LinkedIn - sprechen Sie mich an, ich freue mich auf Sie!
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