29. Juli 2016
Candidate Experience: Tschüss Anschreiben!
Lesezeit: 5 Min. Employer BrandingPersonalmarketingRecruiting
Wozu braucht es eigentlich ein Anschreiben? Es ist doch irgendwie putzig. Da verlangen viele Unternehmen eine aussagekräftige Bewerbung von ihren Kandidaten, selbst aber hüllt man sich in Schweigen. Warum sollte man auch etwas über sich als Arbeitgeber preisgeben? Der Bewerber als lästiger Bittsteller, das ist in den meisten Unternehmen immer noch Realität. Candidate Experience? Neumodischer Schnickschnack, nie gehört. Doch es geht auch anders, wie die nachfolgenden Ansätze zeigen.
Mal ganz im Ernst. Wozu bedarf es noch eines Anschreibens? Dank unzähliger Bewerbungsratgeber sind die ohnehin alle mehr oder weniger identisch. Aber warum soll sich ein Bewerber auch Mühe geben, wenn – siehe oben. Wie es in den Wald – Sie wissen schon. Spannend übrigens, Bewerbungsratgeber gibt es ja nicht nur für Kandidaten. Die gibt es auch für Personaler. Und so werden immer noch Fragen nach Stärken und Schwächen gestellt. Oder, wie mir jüngst zugetragen wurde: “Wenn Sie ein Tier wären, welches wäre das und warum?” WTF??? Aber das nur am Rande.
Telefónica verzichtet auf Bewerbungsanschreiben
Alle reden von Candidate Experience aber keiner geht hin, so ungefähr könnte man die aktuelle Situation am Arbeitgebermarkt beschreiben. Und das spiegeln auch die Ergebnisse der Social Media Personalmarketing Studie 2016 eindrucksvoll (oder erschreckenderweise) wider. Nur wenige haben begriffen, dass es so nicht weitergeht. Und so kann man bei der Otto Group nun nicht nur den Chef HOS duzen, sondern sogar den Recruiter. Außerdem verzichtet man auf das Anschreiben. Schließlich will OTTO es den Bewerbern ganz bequem machen: Lediglich eine beantwortete Motivationsfrage sorgt für eine persönliche Note in der Bewerbung. Auch Telefónica (O2/E-Plus) geht diesen radikalen Schritt. Ab sofort verzichtet man auch bei Telefónica Deutschland auf Bewerbungsanschreiben. Christian Sekels, Manager Talent & Recruiting bei Telefónica Deutschland dazu:
“Wir verzichten auf das Bewerbungsanschreiben ganz bewusst – ganz im Sinne einer Leading Digital Telko. So sparen Bewerber ihre Zeit, denn sie müssen sie nicht mehr mit dem Entwurf eines Anschreibens verschwenden. Durch unser Bewerbertool werden alle notwendigen Informationen des Bewerbers erhoben.”
Bewerben kann so einfach sein. Theoretisch zumindest. Denn leider setzt Telefonica auf das E-Recruiting-Schreckgespenst eines jeden Bewerbers (und Recruiters): SAP. Wie es darum bestellt ist, wissen meine Leser. Und Tausende von Bewerbern. Und frustrierte Recruiter sowieso. Aber auch bei Telefónica selbst hat man erkannt, dass Handlungsbedarf besteht und so dürfen sich Bewerber in Kürze auch auf ein nutzerfreundlicheres Bewerbungsverfahren freuen. Ein erster Schritt ist mit dem Verzicht aufs Bewerbungsanschreiben bereits gegangen. Wobei… Ganz so richtig ist das mit dem Abschaffen des Anschreibens nicht: Azubis dürfen weiter in die Tasten hauen!
Bei Seibert Media entscheidet der Bewerber
Aber man kann das Bewerbungsverfahren auch anders gestalten und dem Bewerber quasi selbst überlassen, wie er sich bewirbt. So gibt wieder einmal Seibert Media aus Wiesbaden ein schönes Praxisbeispiel einer positiven Candidate Experience. Hier hat der Bewerber im Grunde genommen drei Möglichkeiten (eigentlich sogar vier), wie er sich bewerben kann. Da ist zum einen die Bewerber-Community (erinnert ein wenig an Zappos, die ja seinerzeit vollmundig herumposaunten, sie würden die Stellenanzeige abschaffen, aber schnell erkannten, dass es ohne selbige gar nicht geht), bei der sich ein Interessent anmelden kann und über aktuelle Jobangebote informiert wird.
“Du interessierst dich für einen Job bei //SEIBERT/MEDIA und würdest gerne ein bisschen mehr über uns erfahren, ohne gleich ein Bewerbungsformular auszufüllen? Oder du hast gerade keine Zeit?”
Und dann ist da ein Formular. Bzw. eigentlich sind es sogar zwei. Das eine recht simpel (“Falls du gleich eine Bewerbung erstellen möchtest, dann fülle doch bitte das folgende Formular aus. Dabei hast du die Qual der Wahl zwischen der kurzen und der ausführlichen Variante. Es ist absolut okay, wenn du erstmal nur die nötigsten Angaben machst, die wir brauchen, um deine Bewerbung zu bearbeiten. Wir finden es aber auch toll, wenn du gleich mehr über dich erzählst.”), das andere recht ausführlich (“Um einen noch besseren Eindruck von dir zu gewinnen, würden wir dir gerne noch ein paar weiterführende Fragen stellen, aber ganz optional. Wenn du weitere Felder ausfüllst: cool! Aber keine Sorge, falls du jetzt keine Zeit hast oder das nicht möchtest.“).
Wie viel Angaben der Bewerber macht bzw. welche Formularfelder der Bewerber ausfüllt, bleibt ihm selbst überlassen. Und – so wird es auf der Website versprochen: Jeder Bewerber wird gleichrangig behandelt. Und wer mag, kann regelmäßig zum “Open Office” einer Art “Tag der offenen Tür” vorbei schauen und die Kollegen von morgen kennen lernen. Super Sache, wie ich finde!
Die 15-Sekunden-Bewerbung bei Daimler TSS
Einen anderen Ansatz verfolgt Daimler TSS. Auch hier verzichtet man komplett auf ein Anschreiben. Stattdessen kann sich der Bewerber mittels Video präsentieren. Der Ansatz von “15 Sekunden”: Anschreiben ersetzen und via Video den Bewerber in die Lage versetzen, schnell und ohne großen Aufwand einen ersten Eindruck von sich zu vermitteln. Das Ganze eben in 15 Sekunden. Oder auch länger. Ganz, wie man mag.
“15 Sekunden, die dein Leben verändern. Discover new dimensions. Ohne Schlips und Kragen. Kamera an und sag uns in 15 Sekunden, was dich ausmacht.”
Wie erfolgreich das von Blogger-Kollege und Recrutainment-Papst Jo Diercks als “möglicherweise radikalst-niedrigschwellige Bewerbungsmöglichkeit überhaupt” eingestufte Recruiting-Modell ist, welches im Februar eingeführt wurde, kann ich nicht beurteilen. Der Ansatz auf jeden Fall ist spannend.
Wobei hier wahrscheinlich auch durchaus ein kleiner Stolperstein liegen könnte. Denn nicht jeder ist vom Medium Video oder Selbstdarstellung à la Selfie begeistert und könnte somit den ein oder anderen von der Bewerbung abschrecken. Aber der kann sich dann ja auch ganz “normal” bewerben.
Bleibt spannend zu beobachten, bis wann die Unternehmen in der Breite endlich einmal anerkennen, dass sich der Arbeitsmarkt gewandelt hat. Vom Arbeitgeber- zum Bewerbermarkt. Und entsprechend handeln.
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