Candidate Experience: Tschüss Anschreiben!

Lesezeit: 5 Min. Employer BrandingPersonalmarketingRecruiting

Wozu braucht es eigentlich ein Anschreiben? Es ist doch irgendwie putzig. Da verlangen viele Unternehmen eine aussagekräftige Bewerbung von ihren Kandidaten, selbst aber hüllt man sich in Schweigen. Warum sollte man auch etwas über sich als Arbeitgeber preisgeben? Der Bewerber als lästiger Bittsteller, das ist in den meisten Unternehmen immer noch Realität. Candidate Experience? Neumodischer Schnickschnack, nie gehört. Doch es geht auch anders, wie die nachfolgenden Ansätze zeigen.

Mal ganz im Ernst. Wozu bedarf es noch eines Anschreibens? Dank unzähliger Bewerbungsratgeber sind die ohnehin alle mehr oder weniger identisch. Aber warum soll sich ein Bewerber auch Mühe geben, wenn – siehe oben. Wie es in den Wald – Sie wissen schon. Spannend übrigens, Bewerbungsratgeber gibt es ja  nicht nur für Kandidaten. Die gibt es auch für Personaler. Und so werden immer noch Fragen nach Stärken und Schwächen gestellt. Oder, wie mir jüngst zugetragen wurde: “Wenn Sie ein Tier wären, welches wäre das und warum?” WTF??? Aber das nur am Rande.

Telefónica verzichtet auf Bewerbungsanschreiben

Alle reden von Candidate Experience aber keiner geht hin, so ungefähr könnte man die aktuelle Situation am Arbeitgebermarkt beschreiben. Und das spiegeln auch die Ergebnisse der Social Media Personalmarketing Studie 2016 eindrucksvoll (oder erschreckenderweise) wider. Nur wenige haben begriffen, dass es so nicht weitergeht. Und so kann man bei der Otto Group nun nicht nur den Chef HOS duzen, sondern sogar den Recruiter. Außerdem verzichtet man auf das Anschreiben. Schließlich will OTTO es den Bewerbern ganz bequem machen: Lediglich eine beantwortete Motivationsfrage sorgt für eine persönliche Note in der Bewerbung. Auch Telefónica (O2/E-Plus) geht diesen radikalen Schritt. Ab sofort verzichtet man auch bei Telefónica Deutschland auf Bewerbungsanschreiben. Christian Sekels, Manager Talent & Recruiting bei Telefónica Deutschland dazu:

“Wir verzichten auf das Bewerbungsanschreiben ganz bewusst – ganz im Sinne einer Leading Digital Telko. So sparen Bewerber ihre Zeit, denn sie müssen sie nicht mehr mit dem Entwurf eines Anschreibens verschwenden. Durch unser Bewerbertool werden alle notwendigen Informationen des Bewerbers erhoben.”

Bewerben kann so einfach sein. Theoretisch zumindest. Denn leider setzt Telefonica auf das E-Recruiting-Schreckgespenst eines jeden Bewerbers (und Recruiters): SAP. Wie es darum bestellt ist, wissen meine Leser. Und Tausende von Bewerbern. Und frustrierte Recruiter sowieso. Aber auch bei Telefónica selbst hat man erkannt, dass Handlungsbedarf besteht und so dürfen sich Bewerber in Kürze auch auf ein nutzerfreundlicheres Bewerbungsverfahren freuen. Ein erster Schritt ist mit dem Verzicht aufs Bewerbungsanschreiben bereits gegangen. Wobei… Ganz so richtig ist das mit dem Abschaffen des Anschreibens nicht: Azubis dürfen weiter in die Tasten hauen!

Bei Seibert Media entscheidet der Bewerber

Aber man kann das Bewerbungsverfahren auch anders gestalten und dem Bewerber quasi selbst überlassen, wie er sich bewirbt. So gibt wieder einmal Seibert Media aus Wiesbaden ein schönes Praxisbeispiel einer positiven Candidate Experience. Hier hat der Bewerber im Grunde genommen drei Möglichkeiten (eigentlich sogar vier), wie er sich bewerben kann. Da ist zum einen die Bewerber-Community (erinnert ein wenig an Zappos, die ja seinerzeit vollmundig herumposaunten, sie würden die Stellenanzeige abschaffen, aber schnell erkannten, dass es ohne selbige gar nicht geht), bei der sich ein Interessent anmelden kann und über aktuelle Jobangebote informiert wird.

“Du interessierst dich für einen Job bei //SEIBERT/MEDIA und würdest gerne ein bisschen mehr über uns erfahren, ohne gleich ein Bewerbungsformular auszufüllen? Oder du hast gerade keine Zeit?”

Und dann ist da ein Formular. Bzw. eigentlich sind es sogar zwei. Das eine recht simpel (“Falls du gleich eine Bewerbung erstellen möchtest, dann fülle doch bitte das folgende Formular aus. Dabei hast du die Qual der Wahl zwischen der kurzen und der ausführlichen Variante. Es ist absolut okay, wenn du erstmal nur die nötigsten Angaben machst, die wir brauchen, um deine Bewerbung zu bearbeiten. Wir finden es aber auch toll, wenn du gleich mehr über dich erzählst.”), das andere recht ausführlich (“Um einen noch besseren Eindruck von dir zu gewinnen, würden wir dir gerne noch ein paar weiterführende Fragen stellen, aber ganz optional. Wenn du weitere Felder ausfüllst: cool! Aber keine Sorge, falls du jetzt keine Zeit hast oder das nicht möchtest.“).

Bewerben bei Seibert Media - einfache Auflistung der Benefits

Wie viel Angaben der Bewerber macht bzw. welche Formularfelder der Bewerber ausfüllt, bleibt ihm selbst überlassen. Und – so wird es auf der Website versprochen: Jeder Bewerber wird gleichrangig behandelt. Und wer mag, kann regelmäßig zum “Open Office” einer Art “Tag der offenen Tür” vorbei schauen und die Kollegen von morgen kennen lernen. Super Sache, wie ich finde!

Die 15-Sekunden-Bewerbung bei Daimler TSS

Einen anderen Ansatz verfolgt Daimler TSS. Auch hier verzichtet man komplett auf ein Anschreiben. Stattdessen kann sich der Bewerber mittels Video präsentieren. Der Ansatz von “15 Sekunden”: Anschreiben ersetzen und via Video den Bewerber in die Lage versetzen, schnell und ohne großen Aufwand einen ersten Eindruck von sich zu vermitteln. Das Ganze eben in 15 Sekunden. Oder auch länger. Ganz, wie man mag.

“15 Sekunden, die dein Leben verändern. Discover new dimensions. Ohne Schlips und Kragen. Kamera an und sag uns in 15 Sekunden, was dich ausmacht.”

Wie erfolgreich das von Blogger-Kollege und Recrutainment-Papst Jo Diercks als “möglicherweise radikalst-niedrigschwellige Bewerbungsmöglichkeit überhaupt” eingestufte Recruiting-Modell ist, welches im Februar eingeführt wurde, kann ich nicht beurteilen. Der Ansatz auf jeden Fall ist spannend.

15-Sekunden-Bewerbung bei Daimler TSS

Wobei hier wahrscheinlich auch durchaus ein kleiner Stolperstein liegen könnte. Denn nicht jeder ist vom Medium Video oder Selbstdarstellung à la Selfie begeistert und könnte somit den ein oder anderen von der Bewerbung abschrecken. Aber der kann sich dann ja auch ganz “normal” bewerben.

Bleibt spannend zu beobachten, bis wann die Unternehmen in der Breite endlich einmal anerkennen, dass sich der Arbeitsmarkt gewandelt hat. Vom Arbeitgeber- zum Bewerbermarkt. Und entsprechend handeln.

Kommentare (11)

Recruiting-Hack: So bekommen Sie auf einen Schlag und völlig kostenneutral mehr Bewerber

[…] das Anschreiben abgeschafft hat. Dazu erst mal ganz herzliche Gratulation! Es war nur konsequent, das Anschreiben abzuschaffen, zumal dieses „Instrument“ der Personalauswahl keinerlei Relevanz hat (es sei denn, Sie […]

Jobs on Facebook: Wird Facebook zum Jobbörsen-Killer?

[…] zu Berufserfahrung und Ausbildung ergänzen, ein „Motivationsschreiben“ hinzufügen (wollten wir das Anschreiben nicht abschaffen?) und dann die Bewerbung […]

Update Recruiting 16.07 - die Recruiting Topics im Juli 2016

[…] sprechen wurde in Anschreiben: überflüssig oder must have? beschrieben und in dem Beitrag Candidate Experience: Tschüss Anschreiben! nochmals unterstrichen sowie Beispiele gezeigt, wo Unternehmen diesen Weg […]

Sonja Auf der Maur

Lieber Henner Genau daran glauben wir im Kinderspital in Zürich auch! Im Februar haben wir mit www.kispi-spirit.ch die einfachste Bewerbung der Schweizer Gesundheitsbranche lanciert und sind damit sehr erfolgreich unterwegs. Lustigerweise waren auch wir mit dem Titel 15-Sekunden-Bewerbung in den Medien: http://www.20min.ch/finance/news/story/Erster-Betrieb-lockt-mit-15-Sekunden-Bewerbung-23333714. Herzliche Grüsse Sonja

Claudia Lorber

Hallo Henner, urlaubsbedingt ein bisserl später aber "sag ich doch" ;-) http://bit.ly/28Vsvtk Und hoffe, das sich noch ein paar mehr Recruitingverantwortliche mal "trauen" Bewerbungsprozesse auch ohne 08/15 Bewerbungs-/Motivationsschreiben aufzusetzen! Liebe Grüße Claudia

Helge Weinberg

Hallo Henner, das Beispiel Daimler TSS finde ich spannend. Deren Zielgruppe sind IT-Experten. Die sollen sich per Selfie bewerben? Passen hier die angebotene Bewerbungsform und die Präferenzen der Bewerber zusammen? Was PR- oder Marketing-Menschen niedrigschwellig erscheinen mag, das kann für andere Zielgruppen wie eben IT eher ein No-Go sein. Was meinst Du? Herzliche Grüße, Helge

Persoblogger Stefan Scheller

Moin Henner, vielen Dank für die immer wieder lesenswerte Zusammenstellung der aktuellen, nennen wir sie mal "Microtrends" im Recruiting. Zum Thema Bewerbungsanschreiben habe ich allerdings aus der Praxis heraus eine etwas differenziertere Betrachtung. Denn wo "ohne Anschreiben" drin steht, ist auf Umwegen dann doch oft ein Anschreiben drin. Falls nicht, gibt es zahlreiche Fälle, wo der Schuss bzw. die Bewerbung nach hinten losgeht: https://persoblogger.wordpress.com/2016/08/03/ist-das-bewerbungsanschreiben-tot-nein-es-wird-nur-falsch-eingesetzt-eine-differenzierte-betrachtung/  Auf eine weiterhin bunte HR-Welt! Viele Grüße, Stefan

Gerhard Grimm

Ich verzichte schon seit längerem auf Anschreiben, insbesondere bei von mir angesprochenen potentiellen Kandidaten. Zunächst stand ich mit diesem Verhalten ziemlich alleine. Für Kollegen und Auftraggeber war das anfangs befremdlich und es gab "Fragezeichen" wegen der unvollständigen Bewerbungsunterlagen. Mittlerweile ist überwiegend die Einsicht da, insbesondere interessante/begehrte Bewerber eher abzuschrecken wenn der Aufwand für einen Erstkontakt zu hoch ist. Beste Grüße Gerhard Grimm Management Consultant & Coach

Myron Panczuk

Hallo Henrik, Du hast "the next big thing" im Recruiting gewohnt amüsant beschrieben. Innovation im Recruiting liegt offensichtlich im Weglassen: Stellenbeschreibung? - Wie uncool, sowas schränkt kreative individualistische, innovative, ... Bewerber nur unnötig ein. Anschreiben? - Lästige Zeitverschwendung, selbst wenn Bewerber erfahrungsgemäß dabei nie in die Tasten hauen, sondern copy&pasten, nach dem Motto "one fitts all". Recruiter? (humanoid): - sind eh nur ein überflüssiger Flaschenhals mit all ihren Vorurteilen (unconscious bias)und Lethargie (dauert ewig, bis Bewerber Antwort bekommen)- Algorithmen sind doch die schnelleren und billigeren Recruiter . Und seien wir mal ehrlich, wer heute noch Bewerber braucht ist sowas von Old School und hat die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt: Crowdworking. Ciao, Myron

Jürgen

Hallo Henner, ein toller Artikel, vielen Dank! Die Unternehmen sollten endlich erkennen, wie die Realität der BewerberInnen aussieht und neue Pfade beschreiten. Beste Grüße aus Wien, Jürgen

Henrik Zaborowski

Lieber Henner, mal wieder schön aufgezeigt, was alles schon so geht. Denn auch wenn es in der allgemeinen HR Welt noch nicht angekommen ist - ja, natürlich geht es ohne Anschreiben. Das lernt man spätestens dann, wenn man als Recruiter zum Sourcing greift :-) Herzlichen Gruß, Henrik
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Moin! Ich bin Henner Knabenreich. Seit 2010 schreibe ich hier über Personalmarketing, Recruiting und Employer Branding. Stets mit einem Augenzwinkern oder den Finger in die Wunde legend. Auf die Recruiting- und Bewerberwelt nehme ich auch als Autor, als Personalmarketing-Coach, als Initiator von Events wie der HR-NIGHT oder als Speaker maßgeblich Einfluss auf die HR-Welt. Sie möchten mich für einen erfrischenden Vortrag buchen, haben Interesse an einem Karriere-Website-Coaching, suchen einen Partner oder Berater für die Umsetzung Ihrer Karriere-Website oder wollen mit bewerberzentrierten Stellenanzeigen punkten? Ob per E-Mail, XING oder LinkedIn - sprechen Sie mich an, ich freue mich auf Sie!
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